"Aus Nachbarschaft ist für uns Freundschaft geworden." – Nachbarn seit 33 Jahren.

© Mit Vergnügen

An der Mollstraße, Ecke Otto-Braun-Straße steht ein blassrosa-farbenes, zehnstöckiges Haus direkt an einer riesigen Kreuzung, über die mehrere Tram-Linien mäandern. Das Haus fällt trotz seiner Wuchtigkeit und dezenten Hässlichkeit kaum auf, der Platz davor ist eingezäunt, gegenüber steht das ehemalige Haus der Statistik, an allen anderen Seiten drei protzige Hotels. Es ist ein Straßenzug, der nicht gerade zum Verweilen einlädt, höchstens um mal kurz den Fernsehturm von Weitem zu bestaunen. So unscheinbar das Haus ist, so viel Geschichte steckt hinter all diesen Fenstern und Türen. Zum Beispiel die zwischen den Nachbarn Uschi Kunze und Edith und Max Lamprecht, die seit mehr als 30 Jahren nebeneinander wohnen.

Der Mieterkomplex an den beiden Hauptstraßen ist auch von innen nicht schöner. Die Gänge sind schmal, nur auf der 3., 6. und 9. Etage befinden sich Aufzüge, die Stockwerke dazwischen sind nur über enge Treppenhäuser zu erreichen. Doch sobald man die Wohnung von Familie Lamprecht im 7. Stock betritt, wird es hell und heimelig. Die Wohnung und auch die viele Geschichte bilden den krassen Gegensatz zu der Optik des Hauses.

Edith und Max Lamprecht (79), ein ruhiges, freundliches Ehepaar, wohnen seit 1970 in ihrer Wohnung. Einst mit ihren drei Kindern, nun ist in der geräumigen Vierraumwohnung alles mögliche an Mobilar verteilt – besonders afrikanische Schnitzereien, die Herr Lamprecht von seinen Reisen und dem langjährigen Aufenthalt in verschiedenen afrikanischen Ländern mitbrachte.

Wohnhaus Otto-Braun-Strasse-MollstrasseBaustelleTreppenhaus

Die Wohnung, in der die Lamprechts noch heute wohnen, vermittelte ihnen Uschi Kunze, eine sympathische, aber bestimmt auftretende Frau von 79 Jahren. Frau Kunze war beim Freien Deutschen Gewerkschaftsbund (FDGB) der DDR für Wohnungspolitik zuständig und suchte für ihren neuen Kollegen Max Lamprecht und seine Familie, die gerade aus Afrika nach Berlin zogen, die Dienstwohnung an der Otto-Braun-Straße. Frau Kunze selbst zog 1983 von Schöneiche in ihre Zweiraumwohnung im 8. Stock. Seitdem sind die beiden Familien nicht nur Nachbarn, sondern auch Freunde. Seit 33 Jahren.

Nachbarn zu haben, die man wirklich gut kennt und neben denen man sich wohl fühlt, ist ein Privileg. Die Lamprechts und Frau Kunze wissen um dieses Privileg und pflegen es. "Nachbarschaft ist für mich gegenseitige Achtung, dass man sich grüßt und hilft.", sagt Uschi Kunze und erzählt von ihren Nachbarn, die sich während ihrer Post-Reha-Zeit um sie kümmerten, die ihr beim Tragen von Einkäufen und Abfallbeuteln helfen. Aber nicht nur kleine Gefälligkeiten machen diese Nachbarschaft aus. Zwischen den älteren Bewohnern des Hauses gibt es einen kleinen Lesezirkel: Wenn die Superillu (Gesundheitstipps!), Wirtschaftswoche und Autoclub-Zeitschrift ausgelesen sind, werden sie in den Briefkasten des nächsten Nachbarn gesteckt, die ebenfalls die Zeitschriften weiterreichen. Und auch in den Urlaub sind die Lamprechts schon mit ihren Nachbarn gefahren – an Silvester, nach Polen und früher mehrere Male im Monat zum Angeln an die Ostsee oder die Oder.

Uschi KunzeFamilie LamprechtEdith Lamprecht: "Aus Nachbarschaft ist für uns Freundschaft geworden. Wir sehen uns und besuchen uns."

Ein bisschen wehmütig schauen die Drei aber auf die Zeit vor der Wende zurück. Fast alle Bewohner kannten sind, hauptsächlich wegen der Kinder, die zusammen in die Schule gingen und dadurch die Nachbarschaft zusammen brachten. Edith Lamprecht erzählt von den Hausgemeinschaftsfesten, dem goldenen Besen – der an denjenigen verliehen wurde, der am meisten im Haus fegte – und den großen Feiern zum internationalen Kindertag, zu denen es im Hinterhof eine Tombola, Radrennen, Essen und Trinken gab.

"Das war das Hauptanliegen, die Nachbarn zusammenzubringen. Wo geholfen werden musste, wurde geholfen.", meldet sich Max Lamprecht zu Wort. Heute sei alles etwas anonymer. Bedingt durch den stetigen Mieterwechsel, das Ableben ehemaliger Nachbarn, aber auch das allgemein fehlende Interesse an einer guten Nachbarschaft, das heute nicht mehr gefördert werde. "'In der DDR war alles gut, und heute ist alles schlecht' – so ist es natürlich nicht! Was man daraus macht, muss man selbst machen. Wenn was nicht in Orndung ist, soll man sich dafür einsetzen und mit den Leuten sprechen.", stellt er aber klar.

Gespraech Familie LamprechtEdith Lamprecht: "Wir sind füreinander da."

Dass der Zusammenhalt trotzdem noch groß ist, bewiesen die Eigentümer und Mieter, als sie die Gruppe "Hinterhofverhinderer" gründeten. Dort, wo sich jetzt 10 Meter vor den Fenstern der Bewohner eine Baustelle befindet, soll ein neues Wohnhaus gebaut werden. Auf dem Streifen befanden sich noch vor einigen Monaten Parkplätze für die Mieter und zahlreiche Bäume. Jetzt also Hinterhof mit Blick ins Schlafzimmer der neuen Nachbarn. Familie Lamprecht und Frau Kunze haben gekämpft. Sie haben unter Polizeiaufsicht demonstriert, Tücher mit Aufschriften rausgehängt, teure Rechtsanwälte engagiert. Aber "es hat alles nichts genützt", sagt Edith Lamprecht resigniert.

Man spürt ihre Verbitterung über die Situation und den Einsatz, der sich nicht auszahlte. Insbesondere da direkt gegenüber des Wohnhauses ein riesiges, bis zum Alex reichendes Gebäude steht: das ehemalige Haus der Statistik. Das allerdings ist marode, müsste zurückgebaut und "(...) kann nicht gesprengt werden, weil dahinter das Haus der Gesundheit steht und das steht unter Denkmalschutz. Und das zurück zu bauen ist natürlich viel viel teurer.", sagt Edith Lamprecht etwas aufgebracht. Frau Kunze sieht es mittlerweile etwas gelassener. Sie habe genug getan und ein beruhigtes Gewissen: "Alles was ich nicht ändern kann, darüber rege ich mich nicht auf."

Baustelle Otto-Braun-Strasse Ausblick Otto-Braun-Strasse

Man kann sich das heute kaum noch vorstellen, eine so lange Zeit nebeneinander zu wohnen. 33 Jahre Nachbarschaft bedeutet Offenheit, Hingabe, Ausdauer, den Glaube, durch Gemeinschaft etwas zu erreichen. Und am Ende soll ja auch einfach das Zusammenleben erleichtert werden.

Uschi Kunze und das Ehepaar Lamprecht nehmen kein Blatt vor den Mund. Sie fallen sich ins Wort, korrigieren sich, reden durcheinander und schnauzen den anderen schon mal an. Aber immer mit einem Lächeln im Gesicht. Diese Vertrautheit muss man erst einmal erreichen.

Kuechenschrank Familie Lamprecht Fenstersims Familie Lamprecht Afrikanische Schnitzereien Hausimpressionen

Buch, Mit Vergnügen, Berlin für alle Lebenslagen
Zurück zur Startseite