"Das Leben der Anderen" - Frau Menzel aus Berlin

© Matze Hielscher

Uns ist aufgefallen, dass wir kaum "normale" Menschen kennen. Menschen, die nicht in einer Band spielen, DJs sind oder in einer Agentur arbeiten. Menschen, die nicht den gleichen Lebensentwurf haben wie wir. Was macht ein Müllfahrer, Taxifahrer, Fahrkartenkontrolleur in seiner Freizeit? Wie sieht es bei einem Grillwalker zu Hause aus, wovon träumt die Frau vom Ordnungsamt? In unserer neuen Serie "Das Leben der Anderen" trinken wir Kaffee und Bier mit den Common People, waschechten Typen ohne Röhrenjeans und stellen diese Fragen. Als erstes haben wir Frau Menzel in ihrer Wohnung in Friedrichshain besucht.

Die Schlange vor der Mädchentoilette ist schon wieder so lang, dass man mit absoluter Sicherheit die nächsten drei Lieder der Lieblingsband verpassen würde, die gerade nebenan auf der Bühne steht. Jetzt gehen da auch noch vier Leute gleichzeitig in eine Kabine. Ok es reicht. Schnell wieder raus, bei den Männern ist nichts los, kein Security, schnell entleeren, nicht hingucken. Geht leider nicht: Mindestens sechs Männer stehen an der Rinne und lachen sich tot, da ein Weiterer in eben dieser liegt. Und mitten drin steht eine kleine Frau, die am Lautesten und Herzlichsten lacht. Jetzt sieht sie mich an, ich schrecke zusammen, ich bin ja noch immer illegal auf der Männertoilette, aber statt dem erwarteten Verweis sagt sie: »Mädchen, hättest du mal watt jesagt, dann hätt' ick dich bis zur Kabine begleitet.« Ich atme auf und lächle zurück. Hier stehen mindestens zehn betrunkene Männer, und diese kleine zierliche Frau hat buchstäblich alles im Griff.

Frau Menzel spricht jeden Satz mit absoluter Überzeugung. In ihrer Wohnung ist alles ordentlich und sauber, jeder Gegenstand hat seinen Platz. Sie ist Toilettenfrau. Sie kümmert sich um die Geschäfte die uns unangenehm sind. Auf die Frage, warum sie mit ihren fast 70 Lebensjahren immer noch arbeiten geht und das auch noch nachts und auch noch in einem Club antwortet sie: »Naja wissense, irgendwann war ick hier mit dem Putzen fertig, alles war sauber, da konnte ick nicht mehr weiter putzen, sonst wären die Möbel ja irgendwann weg jewesen.« Frau Menzel hat nicht gerne Freizeit, so scheint es. Sie hat drei erwachsene Kinder, zwei Enkelkinder und eine pflegebedürftige Mutter. Und dann eben ihren Job im Postbahnhof, mehrmals die Woche. Wenn sie davon erzählt, dann spricht sie mit großer Freude und gar keinem Ekel. »Ick habe ja meine Handschuhe auf.« Sie kennt viele Geschichten und Geheimnisse von diesem Unort, man hat sogar das Gefühl, dass sie so viel mehr über Menschen weiß als wir alle zusammen. Sie ist eine Wächterin. Sie weiß, dass die Weiber die Dreckigsten sind und dass Männer nicht immer alleine auf’s Klo gehen. Wenn vier Jungs und ein Mädchen aus einer Toilette kommen, dann geht sie danach staunend in die Kabine und fragt sich, wie diese fünf Menschen da Platz für was auch immer haben konnten. Sie weiß, wer welche Pillen genommen hat und wer dann »Scheibe spielt.« Ob sie manchmal Angst hat vor diesen Menschen im Rausch hat? »Nee, die sind ja alle nett, nicht frech. Man muss den jungen Leuten n bisschen entgegenkommen, sage ick ma`«. Einmal lief ein Mann durch den Club und hat sich vor den Augen der Mädchen einen runter geholt. Frau Menzel hat in ihrer trockenen Art gesagt, dass sich das ja nicht gehört. Ein paar Beschimpfungen, einen Rausschmiss und einen Tag später kam der junge Mann mit einem Strauß Blumen zurück, um sich bei ihr zu entschuldigen.

Toiletten beaufsichtigt sie seitdem sie Rentnerin ist. Bis zur Wende war sie fest bei einer Gebäudereinigungsfirma beschäftigt, hat bei Margot Honecker in den Büros geputzt. Zur Wende war sie kurzzeitig arbeitslos, das hat sie aber nicht lange ausgehalten. »Meine Mädels haben mir schon gesagt, ich werde schon langsam zickig.«

Wenn es nach ihr ginge, dann würde sie jede Nacht ihren weißen Kittel überziehen und den Jungs und den Mädchen die Hosen hochziehen. Ich frage sie, ob die manchmal davon träumt. Sie lacht und antwortet, aber ich verspreche, dass ich das nicht aufschreibe. Manche Sachen spült man doch einfach runter.

Text: Linda Krieg
Fotos: Matze Hielscher

Die Serie entsteht in Kooperation mit Greatest Berlin. Wenn euer Onkel Taxifahrer, Maurer o.ä. ist, dann sagt uns gern bescheid.

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