Wie viel Kultur ist gut für ein Kind?
"Cool trotz Kind" ist für alle Eltern dort draußen. Autor Clint durchläuft dafür sämtliche Lebensentwürfe. Auf drei Jahre Kleinfamilie folgten vier Jahre Wechselmodell. Inzwischen hat er eine Freundin, die selbst Mutter ist. Dabei war er immer zufrieden, mit seiner Tochter Wanda* nur ein Einzelkind zu haben. Doch Zeiten ändern sich. Clint findet man auch bei Instagram.
Meine Tochter reagiert ziemlich neidisch, wenn sie erfährt, dass ich mich ohne sie amüsiert habe. Erzähle ich ihr von einem Restaurantbesuch, der in ihrer Abwesenheit stattfand, oder von einem Tag auf der Pferderennbahn, stemmt sie ihre kleinen Hände in die Hüften und runzelt missbilligend die Stirn. Es wäre ihr viel lieber, wenn ich an den Tagen, die sie bei ihrer Mutter verbringt, nur existieren würde, um ihren abendlichen Anruf entgegenzunehmen. Sie will eben nichts verpassen von all den aufregenden Dingen, die man in dieser Welt treiben kann.
Der Gipfel der Unverschämtheit ist für sie, dass ich seit letztem Jahr eine Vorliebe für die italienische Oper entwickelt habe. Dass ich allein oder mit meiner Freundin Judith den Werken von Puccini und Verdi lausche – statt mit ihr – , hält sie für eine bodenlose Frechheit. Es ist natürlich nicht so sehr die Musik, die sie neugierig macht, sondern das Drumherum. Das Opernhaus mit seinen Kronleuchtern, die Getränke in der Pause, die Outfits der anderen Gäste. Wenn ich mal wieder so dumm war und mich verplappert habe, löchert sie mich unbarmherzig mit Fragen.
Die Freizeit ihrer Eltern ist Kindern ein Dorn im Auge
"Wie sah die Prinzessin denn aus?"
"Zuerst war sie eine riesige Puppe, die von ganz vielen Leuten mit Seilen gezogen wurde. Und dann eine Frau mit Glatze, die ganz toll gespielt hat."
"Und ist die am Ende gestorben?"
"Ja, es sind alle gestorben, wie es sich für eine gute Oper gehört."
Um sie nicht noch weiter zu erzürnen, haben Judith und ich dem lieben Kind einen Staatsoper-Besuch zu Weihnachten geschenkt. Allerdings nicht für ein Singspiel, sondern für "Schwanensee", denn Wanda wollte längst mal Ballerinen bei der Arbeit bewundern. Fein rausgeputzt stehen wir am großen Abend im Foyer und betrachten die anderen Gäste. Es sind erstaunlich viele Kinder anwesend, wir sind also nicht die Einzigen mit der gewagten Idee, die Aufmerksamkeitsspanne einer Achtjährigen mit einem 170-Minuten-Stück zu strapazieren.
Plätze im dritten Rang, halb links. Eigentlich ist der Blick auf die Bühne uneingeschränkt, doch schon jetzt zappeln zwei Frauen mit ihrem Kind so hektisch in der Reihe vor uns herum, dass wir hauptsächlich Hinterköpfe zu sehen kriegen. Und Smartphone-Bildschirme. Denn es wird pausenlos fotografiert. Auch nachdem die Ouvertüre begonnen hat. Fotos von der Bühne, mit Blitz und ohne, Fotos vom Nachwuchs, Fotos von der Bühne, mit dem Nachwuchs im Vordergrund.
Im Cirque du Soleil geht es weniger proletarisch zu
Kaum hat der erste Akt begonnen, flüstert Wanda mir stakkatoartig Fragen ins Ohr. Normalerweise würde ich sie zur Ruhe ermahnen, doch wenn die Gäste aus Goslar und Rathenow sich wie die letzten Menschen benehmen, verspüre ich wenig Drang, mich an die Etikette zu halten.
"Papa, warum springen die alle so komisch rum?"
"Das ist so beim Ballett."
"Warum hat der Prinz so eine enge Hose an?"
"Damit man seinen Knackarsch gut sehen kann."
"Und warum husten die Leute im Publikum dauernd?"
"Weil sie ihre Atemwegserkrankungen am liebsten da auskurieren, wo es am meisten stört."
Normalerweise würde meine gute Laune längst der üblichen Genervtheit weichen. Nach jeder Szene wird ausdauernd applaudiert, als befänden wir uns im Friedrichstadtpalast oder bei einem Helene-Fischer-Konzert. Es entwaffnet mich jedoch, zu sehen, wie Wanda begeistert in den Applaus einstimmt. Auch als wir in der Pause für gestellte Fotos posieren, kann ich dagegen nichts einwenden. Judith wirft mir einen lachenden Blick zu, während ich einen tiefen Schluck aus dem Flachmann nehme.
Nach jeder Szene wird ausdauernd applaudiert, als befänden wir uns im Friedrichstadtpalast oder bei einem Helene-Fischer-Konzert.
Versteht sich von selbst, dass Wanda gegen Ende des Stückes müde wird. Vor allem, weil wir durch den ständigen Applaus längst die drei Stunden überschritten haben. Auf dem Heimweg ist sie trotzdem begeistert.
"Und bald will ich die Oper mit der großen Puppe sehen!", ruft sie.
"Es gibt sogar Kinderopern", meint Judith. "Da könnten wir dann auch mit Toni* hingehen."
Toni ist ihr knapp fünfjähriger Sohn. Ich stelle es mir ganz gut vor, die Oper zu unserem neuen Patchwork-Ritual zu machen. Musikerziehung mit Flachmann und Nachwuchs – wenn das nicht nach einem hübschen Stillleben klingt.
*Namen geändert