Kinder müssen von Katastrophen nichts wissen

© Wiebke Jann

"Cool trotz Kind" ist für alle Eltern dort draußen. Autor Clint durchläuft dafür sämtliche Lebensentwürfe. Auf drei Jahre Kleinfamilie folgten vier Jahre Wechselmodell. Inzwischen hat er eine Freundin, die selbst Mutter ist. Dabei war er immer zufrieden, mit seiner Tochter Wanda* nur ein Einzelkind zu haben. Doch Zeiten ändern sich. Clint findet man auch bei Instagram.

Neues Jahr, neues Glück. Und das war bitter nötig. Als ob Weihnachten und Silvester nicht schon schrecklich genug wären, haben November und Dezember uns diesmal dermaßen sturmreif geschossen, dass wir leichte Beute waren für jede Form von Kacke am Hacken. War es die Kraft der Autosuggestion, weil ich immer vom Schlimmsten ausgehe? Hat das Schicksal es auf uns abgesehen? Oder was war da los?

Eine kurze Zusammenfassung unseres häuslichen Glücks: Wie so gut wie alle anderen Kinder, war auch meine Tochter Wanda fast den ganzen November krank. HS-Virus, grippale Infekte, pipapo. Als sie nach drei Wochen endlich auskuriert schien, wachte sie morgens plötzlich mit hohem Fieber und anderen, weniger eindeutigen Symptomen auf. Da wir am Abend davor einen Berg Muscheln gegessen hatten, sprang sofort mein Kopfkino an und ich wurde tätig. Stichwort: vom Schlimmsten ausgehen. Giftnotruf, Rettungswagen, Notaufnahme. Am Sonntagmorgen. Nach sechs Stunden die Entwarnung. Es ist "nur" eine ausbrechende Influenza.

Life's a bitch and then you die

Also erstmal krankschreiben lassen, um das Kind versorgen zu können, in der hektischsten Arbeitswoche des Jahres. Da ich schon mal zu Hause war, holte ich mir bei Wanda direkt meine eigene Influenza ab. Meine erste echte Grippe. Was soll ich sagen? Zwei Wochen später hatte ich immerhin sechs Kilo abgenommen. Das war aber auch der einzige positive Effekt. Auf dem Höhepunkt meines Fieberdeliriums fiel ich auf den Anruf eines Trickbetrügers herein, der in der Folge mein Bankkonto komplett leerräumte. In der Woche vor Weihnachten. In der außer Trickbetrügern niemand mehr arbeitet, schon gar nicht bei der Sicherheitsabteilung der Bank.

Meine Freundin Judith beruhigte mich. Sie könnte mir erstmal was leihen, damit Miete, Strom, Internet, Wandas Schulgeld gesichert sind. Dann schlug bei ihr das Finanzamt zu und sagte ebenfalls: Einmal alles, bitte. Nachträgliche Vorauszahlung. Die Grippe hatte mich immer noch in ihren Fängen. Dann bekam der Vater von Judiths Sohn Toni* das noch immer beliebte Modevirus Corona, wodurch auch alle verbliebenen Pläne zerschossen wurden. Merry Christmas.

Was tun, wenn's brennt?

Immerhin ist bei uns kein Krieg, sagte ich mir immer wieder. Ich bin noch im stolzen Besitz all meiner Gliedmaßen. Die Heizung läuft, Strom und Internet sind derweil nicht abgestellt. Ich habe Freunde und Freundinnen, die im Notfall für mich einkaufen können. Trotzdem spürte ich das dringende Bedürfnis, mich bei meinen nächsten Verwandten auszuheulen. Bei meinen Eltern und bei meinem Kind. Vor allem letzteres. Ich hätte Wanda gerne erzählt, was mich bedrückt.

Doch dann ließ ich es einfach bleiben. Denn auch wenn unser von Befindlichkeiten geprägtes Weltbild uns lehren möchte, dass Offenheit immer das Beste ist, muss man dem nicht unbedingt folgen. Offenheit ist überhaupt nicht das Beste. Wenn alle die Last ihrer Sorgen ungefiltert mit ihrer Umwelt teilen würden, das fragile Konstrukt namens "Zivilisation" würde augenblicklich im Chaos versinken. Geteiltes Leid ist nicht halbes Leid, sondern doppeltes. Oder vielfaches.

Denn auch wenn unser von Befindlichkeiten geprägtes Weltbild uns lehren möchte, dass Offenheit immer das Beste ist, muss man dem nicht unbedingt folgen.

Würde ich Wanda erzählen, dass unser Bankkonto gehackt wurde, bekäme sie es mit der Angst zu tun. Nicht weil sie die finanziellen Folgen überblicken kann. Sondern weil es ihr zeigen würde, dass ihr Vater den biestigen Stürmen des Lebens vollkommen schutzlos ausgeliefert ist. Was ich auch bin. Allerdings hat dieses Wissen nichts in einem achtjährigen Kinderkopf zu suchen. Der ist mit anderen, viel wichtigeren Dingen beschäftigt und soll das auch sein.

Deshalb: Wenn der Schuh drückt, einfach mal Fresse halten. Auch wenn beide Schuhe und der Schlüpfer drücken. Zähne zusammenbeißen und nach Lösungen suchen. Natürlich sind Hilferufe erlaubt, wenn diese Lösungen nicht allein zu erreichen sind. Doch die eigenen Kinder haben es zu jedem Zeitpunkt verdient, dass man ihnen die schöne Illusion einer heilen Welt vorgaukelt.

*Namen geändert

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