Wer in Berlin wohnt, verlässt nie den eigenen Kiez

© Hella Wittenberg

Es ist für mich schon immer einer der Hauptgründe gewesen, in einer Großstadt wie Berlin zu wohnen: die beinahe unbegrenzten Möglichkeiten, Alltag und Freizeit zu gestalten. Das geht mit dem Späti los. Wenn man sich einmal daran gewöhnt hat, zu jeder Tages- und Nachtzeit Bier kaufen zu können, ist man für immer verdorben. Jede Form von Organisationstalent geht dann flöten. So stand ich bei meinem letzten Besuch auf dem Land (Wien) plötzlich da, an einem Samstag spätabends um 15 Uhr, und bekam einfach nichts mehr zu trinken.

Eine andere, für mich unverzichtbare Sache sind die kulturellen Angebote. In einer Kleinstadt muss man dankbar sein, wenn es noch eine halbwegs passable Kneipe sowie ein Blockbuster-Kino gibt. In unserer schönen Hauptstadt dagegen ist an jeder Ecke was los. Es gibt drei verschiedene Opern, zahllose Bühnen, Clubs und Lichtspieltheater, und wer kulinarisch aufgelegt ist, kann sich jederzeit mehrmals durch die ganze Welt fressen.

Schlaraffenland für Geist und Bauch

Ich finde es ungemein beruhigend, dass ich die Auswahl habe. Auch in den manchmal monatelangen Phasen, in denen ich gar keinen Bock habe auszugehen. Die schönen Parks, die Philharmonie, Strandbars und 24-Stunden-Kneipen könnte es genauso gut gar nicht geben, weil ich dann nur im Bett liege und an die Decke starre. Richtig? Falsch! In dem Moment, in dem die Philharmonie schließen würde, wäre ich unfassbar traurig. Ich gehe zwar nicht hin, aber ich will die Möglichkeit haben hinzugehen!

Ich schätze, was das betrifft, unterscheide ich mich kaum vom großen Teil der Bevölkerung. Die meisten verlassen im Alltag nicht ihren Kiez. So kommt es auch, dass man hier selten eine nützliche Auskunft kriegt, wenn man jemanden nach dem Weg fragt. Auch wenn die befragte Person schon 50 Jahre in der Stadt lebt und die gesuchte Straße nur zwei Blocks entfernt ist. Berlin, die schillernde Metropole, ist nun mal auch eine Stubenhocker-Stadt.

In Berlin kann dir niemand den Weg erklären

Vermutlich wird man in jeder Großstadt bequem, bewegt sich im kleinstmöglichen Radius. Aber hier nimmt die Kiezbezogenheit bisweilen sehr drollige Züge an. „Weeß ick doch nich mehr, wann ick dit letzte Mal anna Oberbaumbrücke war. Friedrichshagen? Wat soll ick'n da? Kenn ick doch keenen!“ Gar nicht zu sprechen von der Ignoranz gegenüber Orten, die außerhalb liegen. In „Westdeutschland“ oder noch weiter weg. Ich mag sie ja. Genauso wie ich gern Dorftrampeln zuhöre, die über das böse Berlin schimpfen.

Und nicht falsch verstehen: Es gibt durchaus Wochen, in denen ich den Arsch hochkriege und um die Häuser ziehe, wie ein vorbildlicher Kosmopolit. Letzte Woche, zum Beispiel. Es ging Sonntag schon los, im MaHalla in Schöneweide. Verstrahltes Herumstreunen bei sphärischer Musik und Oldschool-Clubgefühl. Am Donnerstag ein spontaner Besuch meines Bruders, der natürlich ausgeführt werden will. Kneipentour durch Mitte, Pankow und Prenzlauer Berg.

Nach einem samstäglichen Bar-Besuch dann der Höhepunkt: ein 5-Stunden-Abend in der Volksbühne. Wo ich mich doch sonst kaum ins Theater traue. Gezeigt wird das gefeierte Stück Extinction von Julien Gosselin, das mit Techno und Freibier beginnt. Die Inszenierung ist eine Wucht, auch wenn mich das Arthur-Schnitzler-Depri-Gewäsch nicht gerade in Ekstase versetzt. Gegen Mitte des Stückes Protestgebrüll: "Laangweilig, euer Hetero-Scheiß!" Die Antwort von hinter dem Vorhang: "Fuck off!" Besser könnte unsere moderne Streitkultur nicht zusammengefasst werden.

Am schönsten ist: Bei'de Möbel bleiben!

Was bleibt, ist der Stolz, mal wieder richtig die Stadt genutzt zu haben. Mit Sicherheit werde ich nun wieder wochenlang in meinen vier Blocks bleiben und höchstens den Bierbrunnen besuchen. Aber auch das ist schön. Den Hang zur Stubenhockerei habe ich definitiv mit Berlin gemeinsam.

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