Kein Bock auf Arzt: Wieso kümmern sich Männer nicht um die Gesundheit?

© Marit Blossey

Während ich diesen Text schreibe, tritt erneut ein wiederkehrendes Phänomen der letzten Wochen auf. Stechende Schmerzen in meiner Brust. Eine kurze, aber gründliche Google-Suche ergibt ein mögliches Ursachenfeld zwischen Sodbrennen, Verspannung, Herzinfarkt und Lungenkrebs. Wahrscheinlich hätte der Internetwühltisch der Diagnosen nach einiger Zeit noch "falsche Mondphase" und "eigentlich sind Sie schon tot" hervorgebracht. Doch anstatt einen richtigen Arzt oder eine Ärztin aufzusuchen, gehe ich einfach davon aus, mich verlegen zu haben und arbeite weiter. Damit bin ich nicht allein, nur rund jeder zweite deutsche Mann geht regelmäßig zum Arzt – zur Vorsorge sogar noch weniger.

Woran liegt das? Die GQ hat mal gesammelt und kommt auf Scham, Unwissenheit, Antriebslosigkeit, Angst und Zugangsbarrieren. Also, ich habe ja noch nie davon gehört, dass es für Männer irgendwelche Zugangsbarrieren gibt, zumindest für heterosexuelle. Welche Probleme es mit Stigmatisierungen und Barrieren von sexuell übertragbaren Krankheiten bei queeren Männern gibt, ist eine ganz andere Geschichte. Auch Unwissenheit, Antriebslosigkeit und Angst sind keine geschlechtsspezifischen Kriterien. Scham könnte schon stimmen, dazu komme ich noch, rein "männlich" ist das aber auch nicht.

© Nguyễn Hiệp | Unsplash

Dabei hat die Gendermedizin wirklich einige Unterschiede zwischen den Geschlechtern herausgearbeitet. In erster Linie wird natürlich der weibliche Körper vernachlässigt, sowohl Therapien als auch Medikationen sind auf den männlichen Körper ausgelegt. Wenn ein Mann und eine Frau einen Herzinfarkt haben und mit ihren spezifischen Anzeichen ins Krankenhaus laufen, dann wird der Mann eher richtig diagnostiziert. Er hat Schmerzen in der Brust, sie in der Magengegend. Herzinfarkte verlaufen bei Frauen zu 28 Prozent tödlich, bei Männern sind es nur 20 Prozent.

Diese Saison hatten schon vier Bundesligaspieler Hodentumore

Doch das bedeutet nicht, dass es nicht auch einige genderspezifische Defizite beim Mann gibt, sowohl in der Biologie als auch in der Medizin. Der Klassiker: Frauen werden im Schnitt fünf Jahre älter als Männer, 83,4 Jahre zu 78,6. Männer rauchen mehr, trinken mehr und essen mehr Fleisch. Dazu noch ein paar genetische Nachteile und fertig ist der Salat. Von dem wir alle sehr viel mehr essen sollten. Dazu kommen Krankheiten, die bei Männern häufiger auftauchen als bei Frauen. Darmkrebs, Prostatakrebs und Diabetes. Jeder zweite Mann stirbt an Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Männer haben generell ein höheres Krebsrisiko als Frauen. Trotzdem gehen laut RKI nur 40 Prozent der Männer zur Früherkennung, bei den Frauen sind es immerhin zwei Drittel.

Was Früherkennung bringt, kann man am Dortmunder Stürmers Sebastien Haller sehen. Der war am 6. Juli 2022 zum BVB gewechselt und hat am 10. Januar 2023 sein Debüt gegeben. Dazwischen liegen eine Hodentumordiagnose, zwei Operationen und Chemotherapie. Erkannt haben es die Ärzt*innen aber erst, nachdem sich Haller unwohl gefühlt hat. Die testen die Fußballer nämlich nur auf Herz und Lunge, dabei ist das Hodentumorrisiko zwischen 20 und 35 Jahren am höchsten. Das erklärt auch, warum es in jener Saison 2022 vier Hodentumorfälle in der Bundesliga gegeben hat: Marco Richter, Jean-Paul Boetius (beide Hertha), Timo Baumgartl (Union Berlin) und eben Sebastien Haller.

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Bei einem Hodentumor bringt es schon viel, sich als Mann regelmäßig selbst abzutasten. Erhärtungen und Verformungen können Indizien sein. Für viele andere Diagnosen wie Bluthochdruck und Diabetes, benötigt es definitiv Vorsorgeuntersuchungen. Womit wir wieder beim Kernproblem wären: Warum gehen Männer nicht zum Arzt oder zur Ärztin? Persönlich ist es eine Mischung aus keine Lust auf Wartezimmer und auf Kranksein. Unverträglichkeiten beispielsweise will ich lieber nicht kennen, sonst müsste ich ja was an meiner getreide-, zucker- und milchlastigen Ernährung ändern. Gesellschaftlich ist es wohl ein bisschen differenzierter.

Laut einer aktuellen Studie der Gesellschaft für Männergesundheit liegt es vor allem bei jungen Männern zwischen 16 und 28 Jahren in hohem Maß an sozialer Ungleichheit. Die definiert auch die eigene Geschlechterrolle. Die Hälfte der jungen Männer sieht sich immer noch als "starker, unverletzlicher Mann", der nicht über seine Gesundheit nachdenken muss. Doch nicht nur das Umfeld, auch die professionelle Seite kann schuld sein. Bei einem Experiment in der Klinik Hamburg-Eppendorf wurden weibliche und männliche Schauspieler*innen mit depressiven Verstimmungen zu verschiedenen Ärzt*innen geschickt. Bei gleichen Symptomen wurde die Depression bei den Frauen eher akzeptiert, die Männer haben öfter folgende Antwort bekommen: "Reißen Sie sich zusammen."

Die Aussicht, dass ein komplett fremder Mensch, meine Geschlechtsteile in die Hand nimmt, hat mich jedenfalls eher in den Club denn zum Arzt getrieben.

Weil sie sich dann zusammenreißen, bis nichts mehr geht, nehmen sich vielleicht auch dreimal so viele Männer das Leben wie Frauen. Was bei der Frauengesundheit die "Psychologisierung", also die übertriebene Rückführung körperlicher Krankheit auf die Psyche, ist bei Männern die "Somatisierung". Ein Mann ist erst dann krank, wenn er körperliche Symptome hat. Dann ist es manchmal schon zu spät, zum Arzt oder zur Ärztin zu gehen. Sozialisation, wo man nur hinsieht. Meine Freundinnen gehen ja auch schon seit ihrer Jugend regelmäßig zum Frauenarzt. Meine Freunde nicht. Allein, dass es keinen "Männerarzt" gibt, sondern Urolog*innen, Proktolog*inneen und Androlog*innen. Die Aussicht, dass ein komplett fremder Mensch meine Geschlechtsteile in die Hand nimmt, hat mich jedenfalls eher in den Club denn zum Arzt oder zur Ärztin getrieben. Womit wir bei Scham wären.

Die teile ich mir laut LMU München-Studie wohl mit 36 Prozent der Befragten. Von denen übrigens auch 63,5 Prozent mit ihren gesundheitlichen Problemen erst mal keinen ärztlichen Rat suchen. Noch absurder wird das, wenn man weiß, dass laut einer Befragung der Deutschen Gesellschaft für Mann und Gesundheit sogar 75 bis 89 Prozent der Männer (je nach Alter) Angst vor Krankheit haben. In der Gesellschaft sind es nur circa 66 Prozent. Immerhin gehen jährlich mehr Männer zur Vorsorge, kleine Schritte. Die wichtigsten sind Hautkrebs-Screening, allgemeines Gesundheits-Check-up, Krebsvorsorge für Darm, Prostata, Hoden, Zahnvorsorge und die Früherkennung auf ein Bauchaortenaneurysma. Meine Schmerzen in der Brust sind zwar wieder weg, ich hab jetzt für morgen trotzdem einen EKG-Termin gebucht, man weiß ja nie.

Anmerkung aus der Redaktion: Mit "Männern" sind in diesem Beitrag Menschen mit Penis gemeint, "Frauen" beschreibt Personen mit Uterus.

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