Wir reden über alles Mögliche – warum so wenig über Probleme?

© Maranatha Pizarras | Unsplash

Triggerwarnung: In diesem Text geht es um psychische Erkrankungen wie Depressionen und Zwangsstörungen.

Vor ein paar Jahren habe ich davon erzählt, dass es mir nicht gut geht, obwohl alles gut ist. In diesem Text schrieb ich über mein wirres Gefühlsleben, das seit meiner Kindheit von Ängsten, Panik und einem Gefühl von Schwere geprägt ist. Ich wiederhole mich, wenn ich sage, dass es mir rein objektiv und ganz rational gesehen gut geht – aber aus meiner Innenansicht sieht das Ganze einfach anders aus. Nach wie vor kann ich nicht genau benennen, was ich damit explizit meine.

Mich haben nach der Veröffentlichung damals erstaunlich viele Nachrichten von Leser*innen dazu erreicht – damit habe ich nicht gerechnet. Was dabei alle gemeinsam hatten: Sie schrieben mir, dass sie sich plötzlich verstanden fühlten und darüber verwundert waren, dass es da noch so jemanden gibt, der so fühlt wie sie. Auch ich dachte sehr lange, ich wäre mit diesem Befinden alleine. Das ist aber nicht so. Es kommt einem nur so vor, weil viele Menschen nicht darüber sprechen, wenn es ihnen nicht gut geht – oder irgendwas scheinbar von der Norm abweicht. Weil es ihnen unangenehm ist, sie Angst vor den Reaktionen und den Gedanken ihrer Mitmenschen haben. Und weil unsere Gesellschaft starke Leute propagiert. Instagram und andere soziale Netzwerke machen das nicht gerade besser, mit der geschönten Darstellung.

Kein Recht darauf, sich schlecht zu fühlen

Mir geht es oft so, dass ich gar nicht richtig beschreiben kann, wieso ich mich unbehaglich oder bedrückt fühle. Fragt man mich, wie es mir geht, antworte ich meistens "Joah, eigentlich ganz gut". Dabei weiß ich gar nicht, ob es mir gut oder schlecht geht. Gefühlt bin ich konstant "einfach da" – ohne bewusst etwas Definierbares zu fühlen. Eigentlich denke ich immer, dass es mir gut gehen muss, weil andere Menschen "echtes Leid" erfahren. So, als hätte ich kein Recht darauf.

Mit Anfang/Mitte 20 hat mir endlich mal eine Therapeutin gesagt, dass ich bei meinen psychischen Problemen stationär behandelt werden müsste – anders käme ich nicht mehr da raus. Ich glaube, es war direkt das Erstgespräch, indem sie mich ungläubig fragte, ob mir das noch kein*e anderer*e Therapeut*in gesagt hätte. Damals ging es schon einige Jahre, etwa seit ich 12 oder 13 war, um ausgeprägte Zwangsgedanken mit völlig übertriebener Angst vor Krankheiten. Das hat mich in meiner Entwicklung und in meinem sozialen Leben enorm eingeschränkt und war ständig Thema bei mir zu Hause. Mein Umfeld dachte, ich wäre "bekloppt" – ohne wirklich zu wissen, was mit mir anzustellen.

Sich von allen unverstanden fühlen

Psychisch gesunde Menschen können mentale Ungesundheiten vielleicht auf eine Art nachvollziehen, aber nicht verstehen oder nachempfinden. Erklär' mal jemandem, wie in meinem Fall, dass du auf keinen Fall nach Hamburg fahren kannst, weil die Stadt durch Spritzen von Junkies verseucht ist und du ganz bestimmt versehentlich auf eine rauftrampeln wirst. Trotz Schuhen fängst du dir eine Krankheit ein, wirst gemieden und fällst bald tot um. Genau, äußerst unwahrscheinlich.

Aber Wahrscheinlichkeitsrechnungen und rationales Denken helfen nicht bei einer tiefsitzenden Zwangsstörung, die dir üble Szenarien ins Hirn brennt. Und dabei weiß man auch noch selbst, wie bescheuert dieser penetrante Kobold im Kopf ist. Aber auch die vielen Gespräche mit meinen Eltern und mit Ärzt*innen brachten mich nicht davon ab. Ich dachte, ich wäre der einzige Mensch mit derartigen Gedanken – und ja, ich fühlte mich damit machtlos und alleine.

Wir alle haben meinen Trübsal, die Angst und die vielen Hirngespinste auf das Teenie-Dasein geschoben.

Dass Zwänge oft von depressiven Zügen, Episoden oder starken Depressionen begleitet werden, wusste niemand von uns. Ich glaube, wir alle haben meinen Trübsal, die Angst und die vielen Hirngespinste auf das Teenie-Dasein geschoben. Ich war einfach nicht mehr fröhlich und irgendwie belastet. Ich habe mich in meiner Jugend mehr eingeigelt als alles andere. Mal gab es ganz gute Tage oder Zeiten, mal weniger oder gar nicht.  Ein Klinikaufenthalt kam deswegen aber niemandem in den Sinn. Zumal man direkt an das Klischee "Klapse" oder "Irrenanstalt" dachte. Das Thema "Psychische Probleme" war auf jeden Fall ein Tabu, das meinem Empfinden nach vornehmlich innerhalb des engsten Kreises auf den Tisch kam.

Endlich Therapie

Ich weiß noch, dass ich über den Rat meiner Therapeutin, eine psychosomatische Kur zu machen, sehr froh war. Mir war es komischerweise ziemlich egal, was andere denken würden. Ich hatte einfach nur die Hoffnung auf ein leichtfüßigeres Leben. Ich war bereits Anfang 20, im Studium und habe die Semesterferien in der Klinik verbracht. Meine Station war die für Zwangsstörungen und Depressionen.

An meinem ersten Tag sagte ich abends meinen Eltern, dass ich völlig fehl am Platz sei. Dass ich mit Menschen zusammen wäre, die viel krassere Probleme hätten und ich mir dazwischen irgendwie "lächerlich" vorkomme. Auf jeden Fall war es so, dass einige meiner Mitpatient*innen erheblich krasser eingeschränkt und belastet waren. Mit üblen Erlebnissen und Lebensgeschichten. Dennoch habe ich relativ schnell gemerkt, dass ich dort doch richtig aufgehoben war.

Weil es das erste Mal Menschen gab, die mich verstanden haben und umgekehrt. Dabei war es gar nicht wichtig, unter was man genau litt. Die Ausprägungen, Gedankeninhalte und Verhaltensweisen waren mehr oder weniger ähnlich bis teils erschreckend gleich. Und wenn nicht, wurde zugehört und versucht zu helfen. Herausgefunden haben wir das durch den laufenden Austausch untereinander in Gruppentherapien und im täglichen Zusammenleben. Das war anstrengend, herausfordernd – aber vor allem befreiend. 

Nicht mehr alleine mit den eigenen Gefühlen

Zum ersten Mal habe ich gemerkt, dass ich nicht alleine bin und wie wichtig es ist, mit anderen Menschen zu sprechen. Mein Aufenthalt wurde nach ein paar Wochen sogar noch verlängert, weil die Ärzt*innen es wichtig für mich hielten. Offensichtlich hatte ich doch größere Probleme als ich mir ein- oder zugestehen wollte. Heute bin ich äußerst froh über diese Zeit, weil ich vieles über mich und für einen Umgang mit meinen Problemen für mein Leben gelernt habe. Das soll aber nicht den Eindruck erwecken, dass sämtliche Probleme plötzlich verpuffen. Dem ist nicht so. Vielmehr habe ich diverse Werkzeuge an die Hand bekommen und individuelle Umgehensweisen oder Techniken erlernt, die mir helfen.

Wir teilen uns heutzutage so unfassbar viel mit, posten jeden Scheiß, sind ständig in der Kommunikation – warum scheut man sich noch immer so sehr über schlechtes Befinden zu sprechen? 

Insbesondere habe ich aus dieser Zeit mitgenommen, dass es gut ist, die Dinge auszusprechen, die mich belasten. Damit meine ich nicht, dass ich alles in die Welt hinausposaune oder jedem x-beliebigen Menschen meinen Kram aufdrücke. Und natürlich bringe ich auch nicht alles über die Lippen, was ich gerne loswerden will oder warte eine halbe Ewigkeit, bis ich den Mund aufmache. Waren es früher ausschließlich meine Eltern, mit denen ich mich zu sprechen traute, gibt es heute ein paar mehr Personen, mit denen ich auch über psychische Themen rede.

Neben meinem Mann sind das alles Menschen, die ich zu meinen Freund*innen zähle. Dabei geht es natürlich nicht immer nur um mich, sondern genauso um das Befinden der anderen. Manchmal kommen solche Dinge auch mit weniger bekannten Leuten auf den Tisch – was ich völlig in Ordnung finde. Weil es normal ist, dass es einem nicht konstant gut geht oder man etwas Unschönes erlebt. Wir teilen uns heutzutage so unfassbar viel mit, posten jeden Scheiß, sind ständig in der Kommunikation – warum scheut man sich noch immer so sehr über schlechtes Befinden zu sprechen? 

Da ist noch jemand wie ich

Ich will jetzt nicht den Eindruck erwecken, dass ich mich ständig mit Freund*innen im Gesprächskreis befinde. Überhaupt nicht, es gibt viel öfter leichte und spaßige Momente ohne ernste Themen. Aber es ist gut zu wissen, dass man reden könnte, wenn man wollte. Dass man sich beruhigen lassen kann oder vielleicht sogar verstanden wird. Ich finde, dass das Platz haben muss und auf Gegenseitigkeit beruhen sollte. 

Ich hatte übrigens gerade erst einen erneuten Aha-Moment, weil jemand anderes ein Gefühl beschrieb, dass ich schon ewig kenne, aber nie fassen konnte. Glennon Doyle beschreibt genau dieses Gefühl in ihrem Buch "Ungezähmt" als "der große Schmerz", der immer dann auftaucht, wenn alles friedlich und einfach nur gut sein könnte. Der schöne Momente permanent trübt, indem er dir unter die Nase reibt, dass alles irgendwann zu Ende ist. Als ich die dazugehörigen Zeilen las, fielen mir regelrecht die Schuppen von den Augen. Da wurde etwas beschrieben, das mich seit Kindheitstagen wie ein Schleier umhüllte, ich aber nie greifen konnte. Und genau das war wieder so ein erleichternder Moment, wo ich mir dachte: Wow, da ist noch jemand.

Dieser Text wurde von Julia Liehr verfasst.

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