Stadt fragt Stadt #4: Berlin, habt ihr wirklich so ein Problem mit Zugezogenen?

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Mit Vergnügen gibt es in vier schönen Städten Deutschlands: BerlinHamburgMünchen und Köln. Wir Redakteur*innen sprechen via unserer digitalen Endgeräte beinahe jeden Tag und trotzdem bemerken wir immer wieder, dass wir die Eigenarten der einzelnen Städte gar nicht so gut kennen! Was bedeutet in Köln eigentlich Fründe? Was macht man, wenn man in Hamburg keine Fischbrötchen mag? Wieso ist Bier in Bayern ein Grundnahrungsmittel und wer hat eigentlich den Pfeffi erfunden, liebe Berliner*innen? Jede Woche könnt ihr jetzt unsere Antworten dazu lesen bei "Stadt fragt Stadt".

"Was der Berliner nicht kennt, frisst er nicht". Ich wette, diesen Spruch hat jede*r von euch schon mal gehört. Ähnlich verhält es sich mit der Phrase "Wenn's dir nicht gefällt, geh' doch woanders hin!" – das sei typisch Berlin, sagen immer alle. Aber ist das wirklich so? Eher überkommt mich das Gefühl, Sprüche wie diese sind ein bisschen aus der Zeit gefallen und dass es sie so ähnlich überall gibt. Als wir am Montag im Team darüber gesprochen haben, waren wir uns darin einig.

Aber: Wir sind dann eben doch ziemlich schnell wieder bei der Frage gelandet, ob Berliner*innen wirklich etwas gegen Zugezogene haben oder nicht? Das höre man schließlich ständig. Meine Kollegin Charlott hat im Laufe der Diskussion zu recht eingeworfen, dass sich die Zugezogenen- und Schwaben-Debatte in Berlin für sie sehr nach 2015 anfühlt. Da schließe ich mich an. Klingt alles irgendwie ganz schön ausgelutscht. Doch offenbar ist es noch immer ein gängiges Klischee, das da draußen herumschwirrt. Sonst würden wir doch nicht wieder und wieder darüber sprechen.

Also bin ich ein paar Tage mit der Frage schwanger gegangen. Zu einem zufrieden stellenden Ergebnis bin ich aber – so viel sei an dieser Stelle verraten – noch nicht gekommen. Aber wenn ich sehe, wie häufig wir zum Beispiel unter unseren Facebook-Beiträgen oder bei Instagram Kommentare wie "Typisch. Das kann ja wieder wirklich nur eine Zugezogene sagen", "Ihr habt ja keine Ahnung" oder " Die Autorin kommt bestimmt nicht aus Berlin, sonst würde sie das so nicht schreiben" erhalten, dann könnte vielleicht doch etwas dran sein.

Eine Annäherung.

Ab wann ist man eigentlich Berliner*in?

Eines der Hauptthemen, das sich für mich im Rahmen der Zugezogenen-Debatte herauskristallisiert, ist die bisher nie endgültig geklärte Frage: Ab wann ist man ein*e Berliner*in? Wenn ich hier geboren wurde? Oder wenn ich schon mindestens fünf, zehn oder 15 Jahre hier lebe? Ist Zeit, die man in der Stadt verbracht hat, ein Faktor, der angemessen ist, um das zu beurteilen? Muss man das alles überhaupt definieren? Und wofür soll das schlussendlich gut sein?

Ein Freund erzählte mir gestern, eine Freundin von ihm sei Anfang der 2000er nach Berlin gezogen und hat hier eine Tochter bekommen. Sie lebt also schon länger als ihr in Berlin geborenes Kind in dieser Stadt. Sie gilt trotzdem nach wie vor als Zugezogene, während ihre Tochter von vielen als "echte Berlinerin" bezeichnet wird. Das klingt rational nicht wirklich logisch, oder?

© Wiebke Jann

Also muss es um etwas anderes gehen. Es könnte sein, dass es hier schlichtweg um Stolz und ja, vielleicht auch Überheblichkeit, geht. Berliner*innen sind stolz, Teil einer Stadt zu sein, die während ihrer jahrelangen Teilung in Ost und West für beide Seiten immer etwas ganz Besonderes gewesen ist. Berlin hat eine einzigartige Geschichte und ihren Bewohner*innen wurde in Zeiten des Kalten Krieges und darüber hinaus viel abverlangt.

Auf keine Stadt gab es seit den 90ern so einen Run wie auf Berlin

Über die letzten Jahrzehnte hinweg hat Berlin sich aber zu einer Stadt entwickelt, die es längst mit anderen europäischen Hauptstädten aufnehmen kann. Im weltweichen Vergleich sieht die Sache noch mal etwas anders aus, aber das ist eine ganz andere Geschichte. Auf keine zweite deutsche Stadt hat es seit 1990er Jahren so einen enormen Run wie auf Berlin gegeben. Nirgendwo hat die Gentrifizierung, mit all ihren Vor-und Nachteilen, schneller und heftiger wie hier stattgefunden. Nirgendwo gab es mehr Zuzug.

Ein bisschen ist Berlin nun eben auch zu einer Stadt wie jede andere geworden – und das meine ich jetzt gar nicht böse oder negativ. Das ist einfach eine Feststellung. Könnte es also sein, dass diejenigen, die etwas gegen Zugezogene sagen, "ihr" Berlin (wie es früher war) lediglich romantisieren und stilisieren, es gar vermissen? Ist dieses ganze Gehabe am Ende vielleicht auch nur eine Art Bewältigungsstrategie? Ein Umgang mit der rasanten Entwicklung? Besserwisserei? Oder bloß purer Lokalpatriotismus? Es könnte alles sein. Aber dann verhalten sich Berliner*innen am Ende auch nicht anders als der Rest der Welt. Hat aber auch niemand ernsthaft behauptet, oder?

Wie gesund ist Lokalpatriotismus?

Mir persönlich schmeckt der Begriff Lokalpatriotismus nicht gut, irgendetwas in mir sträubt sich gegen dieses ominöse Heimatgefühl, von dem wieder so oft die Rede ist. Aber die Erkenntnis, dass ein bisschen Xenophobie wohl doch in uns allen und offenbar auch in den Berliner*innen steckt, passt ja wiederum zu den Zeichen unserer Zeit. Politisch ausufernde Debatten wie zum Beispiel der sogenannte Schwabenstreit, der einst ausbrach, weil man eine zunehmende Spießigkeit in Berlin befürchtete, sind nur ein Indiz dafür. Das ist problematisch, denn aus einem anfänglichen Schwabenstreit hat sich in den Köpfen vieler Menschen über die Jahre hinweg ein Schwabenhass entwickelt. Und das ist trotz allem Humor, mit dem man diesem Thema häufig begegnet, auch gefährlich.

Ich kann einen gewissen Stolz, eine tiefe Verbundenheit der Berliner*innen mit ihrer Stadt, nachvollziehen. Ich verstehe, dass Wandel und Gentrifizierung auch immer Verlust von etwas Altem bedeuten. Ich lebe selbst seit zehn Jahren hier, bin somit selbst Zugezogene, aber auch ich liebe diese Stadt. Mit all ihren wunderschönen und all ihren hässlichen Seiten. Und mit all ihrer Veränderung, denn die gehörte meines Erachtens schon immer zu Berlin.

Wir alle haben das Recht, hier zu leben, über Berlin zu schreiben, und die Stadt durch unsere eigene Brille zu entdecken – ganz egal, ob zugezogen oder nicht

Machen wir uns also nicht gegenseitig das Leben schwer, indem wir immer wieder dieselben alten Kamellen hervorholen. Lasst uns keine Schubladen mehr aufmachen, in die wir Menschen stecken. Wir alle haben das Recht, hier zu leben, über Berlin zu schreiben, und die Stadt durch unsere eigene Brille zu entdecken – ganz egal, ob zugezogen oder nicht.  Jede*r darf seine eigene Geschichte in dieser Stadt schreiben.

Liebe Kölner*innen, liebe Münchner*innen, lieber Hamburger*innen,
ich glaube nicht, dass Berlin per se etwas gegen Zugezogene hat. Aber die Berliner*innen – ob nun hier geboren oder nicht – sind zweifellos stolz und haben eine Menge mit dieser Stadt erlebt. Nehmt's ihnen also nicht übel, wenn sie mal etwas besser wissen als ihr. Und nun ja, die berüchtigte Berliner Schnauze, die kommt nun mal auch nicht von irgendwo her.

Selbstredend wird das hier hoffentlich das letzte Mal sein, dass wir ernsthaft über die Zugezogenen-Frage (die ist nämlich echt sowas von 2015) schreiben, sondern ein Plädoyer für mehr Offenheit und Toleranz aller, die herkommen. One luv.

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