Stadt fragt Stadt #1: München, wie überlebt ihr es nach 20 Uhr nicht mehr einkaufen zu können?
Mit Vergnügen gibt es in vier schönen Städten Deutschlands: Berlin, Hamburg, München und Köln. Wir Redakteur*innen sprechen via unserer digitalen Endgeräte beinahe jeden Tag und trotzdem bemerken wir immer wieder, dass wir die Eigenarten der einzelnen Städte gar nicht so gut kennen! Was bedeutet in Köln eigentlich Fründe? Was macht man, wenn man in Hamburg keine Fischbrötchen mag? Wieso ist Bier in Bayern ein Grundnahrungsmittel und wer hat eigentlich den Pfeffi erfunden, liebe Berliner*innen? Jede Woche könnt ihr jetzt unsere Antworten dazu lesen bei "Stadt fragt Stadt".
Was machen wir Münchner*innen, wenn nach 20 Uhr alle Läden geschlossen sind? Gute Frage. Es wird natürlich gegrantelt, "Granteln" ist, wie ihr vielleicht wisst, oder jetzt lernt, so etwas wie der bayerische Volkssport – meistens steckt wenig dahinter und spätestens nach einer Mass im Biergarten ist wieder alles in Butter.
1954 allerdings waren die Münchner*innen noch um einiges rebellischer, wenn es um ihr Recht auf Einkaufen ging: Beim so genannten "Münchner Kaufhauskrieg" (lacht nicht, das hieß wirklich so) wurde heftig für längere Öffnungszeiten und verkaufsoffene Sonntage demonstriert. Straßenschlachten nennt es der BR. Daraufhin durften Geschäfte unter der Woche bis 18.30 Uhr und samstags bis 14 Uhr öffnen – ihr seht also: Dass wir heute immerhin bis 20 Uhr einkaufen gehen dürfen, haben sich unsere Münchner Vorfahren hart erkämpft.
1954 gab's den Kaufhauskrieg und heute? Hat sich der Kampfgeist um die Öffnungszeiten verflüchtigt. Gibt ja auch wichtigeres, für das man auf die Straße gehen kann.
Dieser Kampfgeist für Ladenöffnungszeiten ist ziemlich verflogen. Vielleicht auch, weil es heute wichtigere Dinge gibt, für die wir auf die Straße gehen. Er blitzt lediglich hier und da noch auf, wenn auf WG-Feten um neun das Bier schon ausgegangen und keiner mehr zur Tankstelle fahren kann, weil das ganze Bier ja auch irgendwo hingeflossen ist. Abgesehen davon gab es 2019 einen kläglichen Versuch der FDP die Ladenöffnungszeiten zu verlängern und regelmäßige verkaufsoffene Sonntage einzuführen, was "zum Schutz des familiären Zusammenlebens" von der bayerischen Regierung abgeschmettert wurde.
Über diese Sturheit und das Bild des gemeinsamen Abendbrotes in einer maximal undiversen Familienkonstellation, das mir bei solchen Aussagen durch den Kopf schießt, kann ich mittlerweile nur noch müde die Augen verdrehen. Bayern ist nun mal der tattrige, alte Onkel unter den deutschen Bundesländern. Und München hat sich vielleicht einen neumodischeren Janker übergeworfen, trägt auch mal – ganz weltgewandt – Jeans statt Lederhosen, aber im Herzen grummelt es doch ganz gerne in einem Jargon in seinen Vollbart, der eher nach 1950 und Frauen im Petticoat – ähh Dirndl – am Herd klingt, als nach 2020 und globalisierter Flexibilität.
Das Tempo der Stadt ist einfach schön und irgendwann (man bemerkt es dann gar nicht) hört man auf etwas anderes zu wollen.
Andererseits ist die bayerische Gemütlichkeit, die dem Ladenöffnungszeiten-Debakel zu Grunde liegt, auch etwas, das man an Bayern lieben lernt. Egal, ob man sie beim ersten Schluck Muttermilch mit Weißbierschaum aufsaugt oder sich (zwangsweise) an sie gewöhnt: Das Tempo der Stadt ist einfach schön und irgendwann (man bemerkt es dann gar nicht) hört man auf etwas anderes zu wollen. In meiner zweiten WG in München gab es zum Beispiel einen Getränkemarkt unten an der Ecke. Der hatte freitags bis 20.30 Uhr geöffnet. "Heureka", dachte ich beim Einzug, "das ist ja beinahe wie bei einem Berliner Späti – so fühlt sich also die große Freiheit an."
Und wie oft war ich dann nach 20 Uhr dort? Ich glaube tatsächlich kein einziges Mal. Denn wenn ich ehrlich bin, habe ich gar nicht so viel Bock nach 20 Uhr noch einkaufen zu gehen. Viel lieber lasse ich mich von meinem leeren Kühlschrank dazu verführen doch noch in den Biergarten zu fahren und bei einer Radlermass und einer Portion Obazda in geselliger Runde über die Öffnungszeiten zu granteln – unser Leid verbindet uns Münchner*innen halt auch.
P.S.: Um fair zu sein, München ist natürlich nicht die letzte Hinterwäldler-Provinz – es gibt hier einen Edeka am Hauptbahnhof, der sieben Tage die Woche bis 23 Uhr geöffnet hat (sogar sonntags!). Sollte es also mal regnen und der Biergarten keine Option sein oder ihr als Kosmopoliten um 20.01 Uhr verwirrt vor geschlossenen Läden stehen, ist das eure Anlaufstelle. Aber Obacht: Der Laden ist nichts für kleine Scheinchen. Es gibt natürlich einen Preisaufschlag für die Öffnungszeiten. That's Minga, ihr Lieben.
Wer mehr über das Ladenschlussrecht in Bayern lesen will, kann das übrigens hier tun.
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