Eine weltweite Pandemie ist kein Selbstoptimierungs-Retreat

So, jetzt mal Tacheles: Wenn ich noch eine einzige ayurvedische Smoothiebowl mit handgestreicheltem Bio-Quinoa-Granola oder eine Morning Routine mit Yoga Flow im Kerzenschein sehe, raste ich aus! Das war nicht immer so. Zu Beginn der Pandemie fand ich die ganzen Beiträge und Storys auf Instagram noch ganz interessant. So bist du effizienter im Homeoffice – toll. 111 Weisheiten von Marie Kondo, die dein Leben verändern – geil, endlich gescheit ausmisten. Healthy vegane Frühstücks-Bowls, die jetzt dein Immunsystem boosten – oh yes, probier ich alles sofort aus!

Anscheinend ist das exponentielle Wachstum eines Virus nämlich ziemlich direkt an das exponentielle Wachstum von Beiträgen auf Instagram gekoppelt.

Das Problem sind eigentlich nicht die einzelnen Beiträge, sondern eher die Reizüberflutung. Anscheinend ist das exponentielle Wachstum eines Virus nämlich ziemlich direkt an das exponentielle Wachstum von Beiträgen auf Instagram gekoppelt. Ist ja auch klar, Kontakt zur Außenwelt gibt es momentan nur mit mehreren Armlängen Abstand auf der Straße oder eben im Internet. Meine Bildschirmzeit ist dadurch drastisch in die Höhe gegangen und gefühlt sind alle gerade noch viel mehr am "Content createn" als vorher.

Glaube ich meiner Instagram-Bubble, ist jetzt die perfekte Zeit, um meinen gesamten Hausstand auszusortieren und über Nacht zur Minimalistin zu werden, Saxophon spielen zu lernen, nächste Woche fließend portugiesisch zu sprechen, Handstände zu üben, zwölf Bücher zu lesen und jeden Tag ultra gesunde und meisterhafte Gerichte zu zaubern. Dazu werden mir diverse gratis Apps angeboten, mit denen ich jetzt meine Skills im Origami falten oder Sternbilder bestimmen ausbauen kann. Oben drauf kommen Online Ballet-Barre-Stunden und Online-Kurse amerikanischer Elite-Unis für lau.

Irgendwann platzt der Flaschenkorken und die Erkenntnis über meine eigene Faulheit ergießt sich über mir, wie eine zuckersüß-klebrige Kohlensäure-Flut.

Der Druck in mir baut sich auf, wie in einer Spezi-Flasche, die man zu lange im Rucksack herumgetragen und geschüttelt hat. Irgendwann platzt der Flaschenkorken und die Erkenntnis über meine eigene Faulheit ergießt sich über mir, wie eine zuckersüß-klebrige Kohlensäure-Flut. Ich habe die letzten Tage zuhause nämlich noch nichts sinnvolleres geschafft, als im Schlafanzug im Homeoffice zu sitzen, kalte Pizza vom Vortag zu frühstücken und abends stumpf durch mein Handy zu scrollen, während ich den neuesten Pandemie-Nachrichten der Tagesschau-Sprecher lausche.

Aber mal ganz ehrlich, das hier gerade ist eine weltweite Pandemie und kein Selbstoptimierungs-Retreat! Die Idee, dass wir gerade mehr Zeit zur Verfügung hätten als sonst, basiert auf einer simplen Fehlkalkulation. Wer im Homeoffice arbeitet und danach versucht soziale Kontakte per Telefon oder Facetime aufrecht zu erhalten, hat nicht eine Stunde mehr zur Verfügung als im normalen Alltag. Der soziale Kontakt fällt ja nicht weg, wir pflegen ihn gerade nur anders – statt Bier in der Lieblingsboazn, gibt's jetzt halt Bier vor dem Bildschirm.

Wer hat denn verdammt nochmal gesagt, dass wir gerade alles aus einer weltweiten Pandemie rausholen müssen?

Klar, am Wochenende sitzt man jetzt zuhause. Aber früher haben wir doch nach einer anstrengenden Arbeitswoche auch mal ein ganzes Wochenende mit Bingewatching im Bett verbracht und kein schlechtes Gewissen gehabt. Warum sollte das jetzt, zu Corona-Zeiten anders sein? Wenn überhaupt, ist es gerade noch viel verständlicher einfach mal nichts tun zu wollen. Immerhin geht momentan ganz schön viel Energie dafür drauf, sich auf den neuen Alltag einzustellen, neue Nachrichten zu verarbeiten und sich Gedanken über weniger privilegierte Menschen und die Zukunft zu machen.

Meditieren Meditation
© Ida Heinzel

Wir müssen einfach mal ein bisschen gnädiger mit uns selbst sein. Wer hat denn verdammt nochmal gesagt, dass wir gerade alles aus einer weltweiten Pandemie rausholen müssen? Wem wollen wir gerade etwas beweisen? Wir haben uns das nicht selbst ausgesucht, nicht hunderte Euro für einen Kurs in Selbstoptimierung bezahlt und sind niemandem etwas schuldig. Irgendwie ist es ja eine sehr deutsche Sache, dieses Gefühl, dass unser Selbstwert sich hauptsächlich über unsere Produktivität definiert. War ja klar, dass das selbst in Krisenzeiten nicht aufhört – Deutschland sucht den Super-Quarantänehelden.

Keine Termine und sitzen

Aber lasst uns das doch einfach mal über Bord werfen und uns im gepflegten Nichts-tun üben. Am Wochenende mal nur Kaffee trinken auf der To-do Liste stehen haben, den ganzen Tag in Jogginghose abhängen, stupide Serien schauen, ziellos in der Wohnung auf und ablaufen oder einfach mal still sitzen und den Wolken vor dem Fenster beim Vorbeiziehen zuschauen. Die neue Definition von Glück sollte sein: Keine Termine und sitzen. Wenn nicht jetzt, wann dann?

Räumt doch nicht nur eure Wohnung auf, sondern auch euren Instagram-Account. Schützt euch selbst vor Reizüberflutung, indem ihr euren Medienkonsum ein bisschen runterschraubt, eure Bildschirmzeit im Blick habt und nur solchen Account folgt, die euch ein gutes Gefühl geben! Und dann zieht euch den Schlafanzug wieder an und setzt euch ganz ohne schlechtes Gewissen zurück aufs Sofa. Am besten holt ihr euch davor noch eine kalte Flasche Spezi und futtert ganz gemächlich das letzte Stück der kalten Tiefkühlpizza von gestern. In your face Produktivität!

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