Vom Falschen zu viel, vom Richtigen zu wenig: Warum mir Livestreams und Co. nichts geben

© Fang Guo | Unsplash

„Keine Termine und leicht einen sitzen“ – was als Harald Juhnkes Glücksformel Geschichte schrieb, liest sich heute wie eine Gebrauchsanweisung für Corona-Zeiten. Piccolöchen zum Frühstück, Bier vor Vier, Stulle mit Pulle – macht’s manchem erträglicher. Außerdem sind wir ja im Homeoffice, keiner sieht’s, keinen stört‘s, außer vielleicht die eigene Leber, aber die ist nach zehn Semestern Studium ohnehin einiges gewöhnt. Also hängen wir leicht angeduselt zwischen Couchkissen, Dienstreisen sind gestrichen, zu Hause chillen gilt als ärztliche Anordnung, vielmehr noch: als Aufforderung von Mutti Angie herself.

Nur das Glücksgefühl, das will sich trotzdem nicht so recht einstellen. Denn selbst dem angeduseltsten Hirn dämmert irgendwann: Die Termine sind nicht weg, sie haben sich nur verlagert – ins Netz. Im Job jagt ein Video-Call den nächsten, Muttern hat nach einem Dutzend Facetime-Calls immer noch nicht verstanden, dass Wochenmarktbesuche in ihrem Alter gerade zu den mittelmäßigen Ideen gehören, und dann ist da noch die siebenminütige WhatsApp-Voicy der alleinstehenden Freundin, die verständlicherweise gerade erhöhten Gesprächsbedarf hat.

Emojis sind die neuen Emotionen, Breitband-Verbindungen sind das neue Uber zum Treffpunkt.

An den Wochenenden werden wir dann dazu aufgerufen, uns mitten in der Nacht für eine weltweite Gruppenmeditation gegen Corona aus dem Bett zu schälen – und manch einer fragt sich: Soll ich jetzt die Pandemie wegatmen oder lieber checken, welcher DJ gerade noch live aus seinem Apartment in Williamsburg streamt? Oder doch besser ausschlafen, weil am Abend wieder drölfzig DJs, Bands und Comedians aus meiner Stadt auf Sendung gehen? Freizeitstress 2.0.

Während die halbe Welt den Siegeszug der Digitalisierung feiert und ein Loblied darauf trällert, was plötzlich alles möglich ist, fühlt sich das für mich vor allem nach einem an: digitaler Überforderung. Alles ist nur noch online: Online-Sport, Online-Partys, Online-Konzerte, Livestreams und Video-Calls überall. Emojis sind die neuen Emotionen, Breitband-Verbindungen sind das neue Uber zum Treffpunkt.

Der siffige Mief einer langen Clubnacht ist zum sehnsuchtserfüllten Duft der Freiheit geworden.  

Mir gibt das alles: nichts. Konzerte ohne Bühne und wummernden Bass, Partynächte ohne Kneipenmuff – das lässt sich nicht wegstreamen durch DJs, die zwischen Zimmerpflanzen auflegen und Künstler, die auf der heimischen Polstergarnitur performen. Stattdessen wächst mit jedem weiteren Online-Event meine Sehnsucht nach den echten Begegnungen, dem Mittagessen mit den Kolleginnen, dem Kaffeeklatsch mit der Freundin, dem Kneipenabend mit der „Gang“. Sogar den siffigen Mief, der nach einer langen Clubnacht wie eine Klette in den eigenen Kleidern hängt, vermisse ich – diese penetrante Mischung aus Schweiß, Rauch und verschüttetem Bier ist zum sehnsuchtserfüllten Duft der Freiheit geworden.

Doch statt verschwommener Einlass-Stempel vom Vorabend tragen meine Hände nun Trockenflechten – weil ich das mit dem Hände waschen und desinfizieren wohl doch etwas zu ernst genommen habe. Statt zum nächsten Flohmarkt oder Konzert tapere ich nun mit schlafwandlerischer Sicherheit regelmäßig zum Kühlschrank – der Weg ist ähnlich kurz wie der zum nächsten Kilo mehr auf der Waage. Bewaffnet mit sauren Gürkchen fläze ich mich vor den Fernseher. Heute muss es mal ohne hochkalorischen Knabberspaß gehen. Denke ich. Bis der Mann zum Vorratsschrank schlurft und das Vakuum aus der nächsten Chipstüte entweichen lässt. Adieu Saure-Gurken-Zeit!

Aber vielleicht lernen wir alle gerade, das für uns Richtige als solches zu schätzen.

Beim Zapping zeigt sich schnell: Nicht mal das Fernsehen ist, was es mal war. Alte Hasen haben „Online“ als den neuesten heißen Scheiß für sich entdeckt. In der Quarantäne-WG zeigt das Trio Gottschalk-Jauch-Pocher das öde Antlitz von TV 2.0, in Gameshows klatschen nur noch die Kameramänner, während gute-Laune-Bärchi Mark Forster „Live aus der Forster Straße“ sendet – und mit der gestreiften Kulturtasche im Bild hat sich das Thema Kultur dann irgendwie auch schon erledigt. Willkommen in der neuen Prime Time!

Ich schalte aus. Weil mir all das zu viel ist – zu viel vom Falschen und zu wenig vom Richtigem. Zumindest fühlt es sich so an. Aber vielleicht lernen wir alle gerade, das für uns Richtige auch als solches zu schätzen.

Apropos zu schätzen wissen: Am nächsten Morgen habe ich eine Postkarte in meinem Briefkasten gefunden. Von einem Freund. Völlig unerwartet, wunderbar analog. Zuvor gab es Sekt zum Frühstück, danach viel Zeit ohne terminierte Video-Calls und Livestreams. Keine Termine und leicht einen sitzen. Vielleicht ist Juhnkes Definition vom Glück tatsächlich wie gemacht als Gebrauchsanweisung für Corona-Zeiten.

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