Diese Krise ist kein Heldenepos

© Esteban Lopez | Unsplash

Es war einmal in einem fernen Land, da kam ein Virus übers Volk und drohte die Alten und Schwachen niederzuraffen. Die einzige Möglichkeit, alle zu retten, war: zu Hause zu bleiben. Und so tat jeder, was er konnte. Obwohl man nun Abstand voneinander halten musste, kamen die Bewohner des Landes einander näher denn je. Der gemeinsame Kampf gegen den unsichtbaren Feind vereinte sie – und sie fanden Wege, sich auch in der Ferne nahe zu sein. Sie verschickten wieder Briefe, kommunizierten über Video Calls, sangen und tanzten auf Balkonen – und fragten einander, wie es ihnen wirklich geht. Die Gesunden kümmerten sich um die Gefährdeten. Die Zeit der Bedrohung wurde zu einer nie gesehenen Blütezeit der Technik, Wissenschaft, Kreativität – und vor allem: der Menschlichkeit. Es war eine Zeit, die alles veränderte. Das Land war danach nicht mehr dasselbe. Es war ein besseres. The End.

So oder so ähnlich hätte sie gehen können – die Geschichte von Corona. Hätte. Doch die Chance auf ein Märchen haben wir längst verspielt. Weil wir nun mal keine Märchenhelden sind, sondern Menschen. Mit guten und weniger guten Seiten – und die, das wusste schon Helmut Schmidt, zeigen sich in Zeiten wie diesen bekanntlich besonders deutlich. „In der Krise beweist sich der Charakter“ – ein aktuell vielzitierter Satz von Deutschlands beliebtestem Kettenraucher. Ob er wohl das Rauchen aufgegeben hätte, jetzt, in Zeiten wie diesen? Schwer vorstellbar. Denn am Ende war auch er: nur Mensch.

Dass diese Krise nicht nur Schokoladenseiten ans Licht befördern würde, war schon klar, als Corona sein erstes Hashtag fand. #staythefuckhome verbreitete sich noch vor dem ersten harten Lockdown wie ein Lauffeuer – und erstaunlich viele störten sich so gar nicht an der Aggressivität dieser Aufforderung, die als Opfer nicht weniger verlangte als die Freiheit. Der Zweck heiligt schließlich die Mittel. Und der Zweck, das sind in diesem Fall ja Menschenleben. Da darf auch der größte Gutmensch kurz mal verbal eskalieren, nicht wahr?

Der Ton, mit dem über richtig und falsch diskutiert wird, hat schon eine Weile nur noch wenig mit jener „Ode an die Freude“ zu tun, die anfangs noch von Großstadt-Balkonen ertönte. Stattdessen wirkt es immer öfter so, als seien wir in zwei Lager gespalten: Drinnenbleiber gegen Rausgeher, Maskenträger gegen Maskengegener, Virologen gegen Ökonomen, Humanisten gegen Darwinisten.

Manche sind wie kleine ungeduldige Kinder

Auf der einen Seite sind da die, die schon seit dem ersten Lockdown wie kleine quengelnde Kinder auf der Rückbank des Autos sitzen und pausenlos fragen: „Mama, wann sind wir endlich daaaa?“ Mama weiß es auch nicht, aber zur Beruhigung reicht sie eine Tafel Schokolade nach hinten. „Aber jeder nur ein Stückchen!“ Einmal kurz weggeschaut sind nicht nur die Kids, sondern auch die Sitze braunverschmiert, die Packung ist leer. So oder so ähnlich dürfte sich manch Politiker*in gefühlt haben, als er*sie am einen Tag Lockerungen verkündete und schon am nächsten die Fotos von proppenvollen Einkaufsstraßen und Parks in der Zeitung fand.

„Muss ja jetzt auch mal reichen, schließlich haben wir genug Opfer gebracht.“ Und da sich die Oma aus dem vierten Stock immer noch bester Gesundheit erfreut, kann’s so schlimm ja wohl nicht sein. Kleinkind-Logik funktioniert manchmal eben auch für erwachsene Trotzköpfe ganz gut.

Der erhobene Zeigefinger ist das neue It-Piece

Tobsuchtsanfälle löst das wiederum bei den neuen Ordnungshütern der Nation aus. Neben der Maske war der erhobene Zeigefinger für sie das It-Piece 2020 – und der ein oder andere selbsternannte Großstadt-Sheriff hegt längst kollegiale Gefühle für Polizei und Ordnungsamt.

„Was macht denn bitte dieses Auto mit Berliner Kennzeichen vor dem Haus vom Jochen? Da rufen wir mal besser die Polizei!“ Was wie Satire klingt, wurde bittere Realität. Bürger zeigen Bürger an, gerne auch mal auf Verdacht. Komplett abwegig kann man es nicht finden, wenn sich da manch einer an Stasi-Zeiten erinnert fühlte.

Empfohlener redaktioneller inhalt

An dieser Stelle findest du einen externen Inhalt, mit dem wir den Artikel bereichern.
Du kannst ihn dir mit einem Klick anzeigen lassen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden.
Beim Laden des Inhalts akzeptierst du die Datenschutzerklärung.

Aber zum Glück haben wir ja noch unsere Helden – die, die Menschenleben retten. Danke liebe Ärzt*innen, danke liebe Pflegekräfte! „Ähm ‘tschuldigung, was ist denn bitte mit uns Lkw-Fahrer*innen, mit uns Kassierer*innen, mit uns Sozialarbeiter*innen? Ohne uns würde in diesem Laden hier gerade gar nix mehr laufen!!!1!!1 Aber wir, ja wir werden IMMER vergessen.“

Es ist dieser Tage schwer, jemandem öffentlich zu danken, ohne dass sich ein anderer aufregt, dass er an genau dieser Stelle nicht bedacht wurde. Ja selbst manch Krankenhaus-Held*in verliert mitunter schnell den Heiligenschein, wenn Neid und Missgunst sich breit machen.

So erreichte uns auf die "Good News", dass Pflegekräfte als Dankeschön mit Blumensträußen beliefert wurden, folgende Nachricht einer Ärztin:

In meiner Klinik (…) arbeitet die Pflege normal. Keine Extraschichten. Keine krassen Überstunden. Und über Leben & Tod entscheidet niemals eine Pflegekraft. (…) Das ist ohne Ausnahme Arztaufgabe. Es ist wie so oft, wer am lautestem schreit, wird von der Öffentlichkeit am ehesten wahrgenommen. (…) Eins kann ich euch versichern, meine ärztlichen Kollegen haben jedenfalls gerade mehr zu tun.“

Da dämmert einem, dass Heldengeschichten meist eben doch nur Märchen sind. Es dämmert einem, dass diese Krise entgegen aller Behauptungen vielleicht doch keine Chance, sondern einfach nur eine schwere Zeit ist, durch die wir alle irgendwie durch müssen. Eine Zeit, die unsere besten, aber eben auch unsere schlechtesten Seiten zum Vorschein bringt. Eine Zeit, in der manche über sich hinauswachsen und andere eben nicht. Und das ist auch ok, weil wir eben keine Märchenhelden, sondern nur Menschen sind. Es ist ok, wenn wir es nicht schaffen, die Krise in einen schillernden Heldenepos zu verwandeln. Nicht ok ist jedoch, wenn uns dabei noch nicht mal mehr das Menschbleiben gelingt.

Buch, Mit Vergnügen, Berlin für alle Lebenslagen
Zurück zur Startseite