"Hier werden wir nicht vergessen!" – Zu Besuch in einem Wohnheim für obdachlose Männer

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Wo leben eigentlich alkoholkranke, obdachlose Menschen? Notunterkünfte, Beratungsstellen, Suppenküchen und alternative Wohnformen, es gibt unterschiedlichste Angebote für obdachlose Menschen, aber in allen Einrichtungen gilt – aus nachvollziehbaren Gründen – ein absolutes Alkoholverbot. Ich habe mich gefragt: Gibt es einen Platz, an dem obdachlose, nasse Alkoholiker ein Zuhause finden können? Nach einer längeren Suche habe ich einen ganz besonderen Ort im Bergmannkiez in Kreuzberg entdeckt.

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Seit 1998 gibt es hier in der Nostitzstraße ein Wohnheim für alkoholkranke, obdachlose Männer. Gegründet wurde es vom Pfarrer der Heilig-Kreuz-Passions-Kirche, Joachim Ritzkowsky. Er sah damals Obdachlose, die mit dem Alkohol kämpften, auf dem Grünstreifen sitzen und mit großem Engagement wandelte er das damalige Gemeindehaus in eine Unterkunft für nasse Alkoholiker um. Heute, über 20 Jahre später, leben hier 46 Männer im Alter zwischen 40 und 80 Jahren. Sie kommen aus Deutschland, Rumänien, Ghana, Sri Lanka, Polen und der Türkei. Ich habe sie besucht.

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Seit sieben Jahren leitet Ulrich Davids, Sozialpädagoge und ehemaliger Stadtrat Berlin-Mitte, das Wohnheim. „Bei uns landen die Männer, für die es keinen anderen Ort mehr gibt, die austherapiert sind.“ Im Fachjargon nennt man diesen Ansatz „Suchtakzeptierendes Modellprojekt“. „Wir sind eine Dauereinrichtung. In Absprache mit den Ärzten versuchen wir, wenn es medizinisch vertretbar ist, dass die Männer anstatt im Krankenhaus hier im vertrauten Umfeld ihre letzten Tage verbringen können.“ Somit ist dieses Haus nicht nur ein Zuhause für nasse Alkoholiker geworden, sondern gleichzeitig auch eine Art Hospiz.

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Der Eisbär, mit bürgerlichem Namen Siegfried Hausberg, lebt seit zwölf Jahren hier in der Nostitzstraße. Er wurde 1939 in Wuppertal geboren und feiert dieses Jahr seinen runden 80. Geburtstag. Er begrüßt mich offen und herzlich und zeigt mir sein Zimmer.

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Er ist ein vielfältig begabter Künstler. Er musiziert, malt und schreibt. Der Eisbär ist einer der wenigen Hausbewohner, der es geschafft hat, seine Alkoholabhängigkeit zu überwinden. Er ist trocken und lebt vegan.

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Seit vielen Jahrzehnten musiziert der Eisbär – für sich selbst und in der Vergangenheit auch mit einer Band vor Publikum.

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Überall im Haus begegnet man den Gemälden, die er selbst mit Kugelschreiber und Buntstiften gezeichnet hat. Seine Malerei erstreckt sich von Portraits über Landschaften bis hin zur Architektur. Vom dritten Stock des Treppenhauses an bis in sein Zimmer in der vierten Etage hinein ist alles mit Hunderten von ihnen geschmückt. Die Bilder hat er bereits jetzt dem Haus in der Nostitzstraße vermacht. „Ich werde hier sehr geschätzt. Inzwischen empfinde ich das als meine Heimat. Ich will etwas zurückgeben. Die Bilder können dann versteigert werden. Ich will mich auf diesem Weg bedanken."

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Auf demselben Stockwerk lebt seit knapp 3 Jahren Frank aus Potsdam. Der Eisbär hat für ihn ein Bild seiner Heimat, das Schloss Sanssouci gemalt, dies hängt nun an Franks Tür.

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Jeder der Männer hat, auf vier Stockwerken verteilt, ein Zimmer mit eigenem Schlüssel. Zirka die Hälfte der Bewohner sind Pflegefälle.

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Eine weitere Besonderheit des Wohnheimes ist, dass hier zwei Hauspflegerinnen der Diakonie Andrea (l.) und Mary (r.) von der Sozialstation Südstern arbeiten. Sie versorgen die Männer der Pflegegrade 1, 2 und 3. Die Abrechnung hierfür läuft über die Pflegekasse. Zu ihren Aufgaben gehören u.a. Waschen, Verbinden und Windeln wechseln. Andrea erklärt mir: „Es ist wirklich wichtig, die Männer regelmäßig einzucremen, da durch den starken Alkoholkonsum die Haut austrocknet.“

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In einem Raum im Untergeschoss werden die Hilfsmittel gelagert, die sie für ihre tägliche Arbeit brauchen: Handtücher, Rollatoren, Bettwäsche, Windeln und Rollstühle. Andrea (l.) hat früher als Friseurin gearbeitet und schneidet auch heute den Männern im Haus auf Wunsch die Haare. „Man darf hier kein Mauerblümchen sein, man muss gegenüber den Bewohnern auch klar Kante zeigen, damit sie einem nicht auf der Nase rumtanzen.” Im Umgang mit den Männern erlebe ich sie als sehr herzlich, zugewandt und klar.

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Rene arbeitet seit über einem Jahr hier montags bis freitags in der Küche. Er ist gelernter Maler und Lackierer, aber aufgrund einer Knie-OP kann er diesen Beruf nicht mehr ausüben. Durch eine AGH-MAE (Arbeitsgelegenheit mit Mehraufwandsentschädigung) des Jobcenters ist er hierhin vermittelt worden. Rene erzählt mir: "So kann ich mir 180 Euro im Monat dazuverdienen. Mit die Leute hier komme ich gut klar. Dat is wichtig, sonst kann ma hier nicht arbeite."

 

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Auf jedem Stockwerk gibt es eine Gemeinschaftsküche, hier können die Bewohner selbst kochen. Zusätzlich gibt es zentral im Erdgeschoss ein Frühstücksbuffet und Mittagessen nach Wahl. Tag und Nacht sind Mitarbeiter vor Ort.

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Wein und Bier ist in allen Räumen des Hauses erlaubt. Schnaps darf nur im eigenen Zimmer konsumiert werden. Die Bewohner können natürlich das Haus jeden Tag verlassen, um einzukaufen, spazieren zu gehen etc... Diese Freiheit schätzen sie sehr. Nur wenn die Bewohner über Nacht mal außer Haus sind oder länger verreisen wollen, müssen sie es vorher mit den Sozialarbeitern absprechen.

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Das Betriebsklima der Mitarbeiter untereinander ist warmherzig, offen und freundlich. Es wird sich geduzt und über Alltägliches, Wichtiges und vermeintlich Unwichtiges in den Zigarettenpausen mit einer Prise Humor ausgetauscht. Insbesondere der Leiter des Hauses, Ulrich Davids, strahlt Wertschätzung, Warmherzigkeit und Klarheit aus, das prägt das Miteinander im Haus.

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Im dritten Stock lerne ich Volkmar kennen. Früher hat er Küchen transportiert und aufgebaut, unter anderem auch bei einem berühmten deutschen Moderator. Seit drei Jahren lebt er hier.

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Er hat ein geräumiges Einzelzimmer mit Balkon. Volkmar sagt, dass er sich hier sehr wohl fühlt. „Die Sozialarbeiter klopfen an, bevor sie das Zimmer betreten, das ist mir wichtig. Und man kann mit Problemen zu ihnen kommen.“

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Volkmar ist ein leidenschaftlicher Schach- und Skatspieler und hat beim Skatturnier im Haus 2018 den dritten Platz belegt. Stolz thront der Pokal auf seiner Fensterbank.

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Im Eingangsbereich des Hauses lerne ich Karsten kennen. Er ist 54 Jahre alt und kommt aus einer Schaustellerfamilie. Sechs Jahre hat er auf der Straße gelebt. 2013 hat ihn eine Sozialarbeiterin am Ostbahnhof aufgesucht und ihm mitgeteilt, dass sie einen Platz für ihn gefunden habe. Während er mir davon berichtet, merkt man, wie bewegt er davon ist, dass ihn jemand gesucht und gefunden hat. Er wiederholt dies mehrere Male, dass sie extra bis zum Ostbahnhof gekommen sei, um ihn zu finden. Karsten sagt: „Man kommt hier im Haus in der Nostitzstraße zur Ruhe. Wenn man auf der Straße lebt, kommt man nicht zur Ruhe. Aber hier kann uns niemand wegjagen!“

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Karsten lädt mich ein, mir die Heilig-Kreuz-Passionskirche zu zeigen. Sie ist nur wenige Minuten fußläufig entfernt. Sie unterstützt die Arbeit im Wohnheim in der Nostitzstraße finanziell. In der Wärmestube der Kirche leistet Karsten Sozialstunden in der Küche ab.

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Einmal die Woche, jeweils mittwochs von 12 bis 15 Uhr öffnet die Kirche in der Kälteperiode ihre Pforten und bietet eine Wärmestube für obdachlose und einkommensarme Menschen an.

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Die Heilig-Kreuz-Passionskirche handelt immer noch im Geist des Pfarrers Ritzkowsky und ist sehr engagiert in der Arbeit mit Menschen, die von Obdachlosigkeit und Armut betroffen sind. So hängt ein großes Banner „Kältehilfe ist nur Erste Hilfe – Berlin braucht bezahlbaren Wohnraum“ über der Kirchenpforte.

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Auf dem Rückweg kommen wir an den Friedhöfen vor dem Halleschen Tor vorbei. Hier hat der Obdachlosenpfarrer Ritzkowsky 2002 ein Grab gepachtet und in eine Ruhestätte für Arme umgewandelt. Inzwischen wurden hier über 60 obdach- und mittellose Menschen beerdigt. In goldener Schrift sind ihre Namen auf dem Granitstein eingraviert. Pfarrer Ritzkowsky selbst wurde 2003 ebenfalls hier beigesetzt. Auch im Tod wollte er mit denen verbunden sein, die seinen Lebensweg stark geprägt haben.  Karsten berichtet mir: „Diese Grabstätte ist für uns reserviert – wir werden hier nicht vergessen!“ Eine Grabstätte mit eigenen Namen ist für mittellose Menschen eine Ausnahme. Die gängige Praxis in Berlin ist, dass wenn keine Angehörigen mehr auffindbar sind oder sie keine finanziellen Ressourcen für ein Begräbnis haben (Kostenpunkt  2.000 - 35.000 Euro ), eine ordnungsbehördliche Bestattung angeordnet wird. Mehr als 2000 Menschen werden in Berlin jährlich ordnungsbehördlich in Urnenreihengräbern beerdigt. Die Tendenz ist steigend. Dadurch wird deutlich, wie kostbar dieser Ort für Karsten und seine Freunde ist. Ein Ort, an dem sie nicht vergessen werden.

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Während Karsten mir tiefergehend aus seinem Leben erzählt, frage ich mich, wäre der Verlauf ein anderer gewesen, wenn er andere Startbedingungen gehabt hätte? Wäre er dann nicht für 20 Jahre im Gefängnis gelandet? Wie stark ist der eigene Lebensweg von biographischen Voraussetzungen geprägt, die man selbst nicht beeinflussen kann? Und welche Rolle spielen die eigenen Entscheidungen, die man später selbst auf seinem Lebensweg trifft? Das Wohnheim in der Nostizstraße freut sich immer über Menschen, die Zeit mit den Bewohnern Zeit verbringen. Schaut doch einfach mal vorbei.

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