Geplagt vom Winterblues? So übersteht ihr die graue Jahreszeit
Winterblues (m.): romantische Bezeichnung für unromantische saisonale Depressionen, die dein Leben zwischen Oktober und März ruinieren.
Die meisten Winter, an die ich mich erinnern kann, war ich eine müde, graue und lustlose Version meines Sommerselbst. Mich wirklich mit dieser Jahreszeit auseinanderzusetzen, fiel mir erst einigermaßen spät ein. Wichtiger war, die sinkenden Temperaturen verdrossen zu registrieren und mit jeder Woche ein wenig trübsinniger zu werden. Bis vor Kurzem jedenfalls.
Der Ort, an dem mich die Epiphanie traf, war eine Spotify-Playlist. Der Satz, der alles veränderte, stammt von – bitte nicht lachen – Drake. In seinem Song "That’s how you feel" steckt der Gedanke, der mein Verständnis der Jahreszeiten und mein Konzept davon, wie ich sie leben will, auf den Kopf stellte. "Work all winter, shine all summer", singt er da. Und plötzlich war alles klar. Bisher habe ich die Winter nämlich in etwa so verbracht:
Oktober: Es ist Sommer! Ich ziehe noch keine Jacke an!
November: Der Sommer ist vorbei. Lasst mich in Frieden sterben.
Dezember: Kann man Käsefondue auch intravenös aufnehmen?
Januar: Bitte abholen.
Februar: s. Januar.
März: ES IST FRÜHLING! ICH ZIEHE KEINE JACKE MEHR AN!
Work all winter, shine all summer
Ablehnung, Verzweiflung, Überforderung – ich habe im Sommer gearbeitet, ich habe im Winter gearbeitet, erst Home-Office, dann Büro, dann wieder zurück. Ich habe in beiden Jahreszeiten versucht zu scheinen, so gut es eben ging und am Ende war ich von beidem: erschöpft. Super. Und kein Wunder. Weil es eine Lüge war. Weil ich mir eingeredet habe, es gäbe keinen wirklichen Unterschied zwischen Winter und Sommer. Es fühlte sich an, als würde ich trotz Grippe und Corona Sport machen: sehr anstrengend, sehr ungesund und schlichtweg falsch. Winter ist nicht der Sommer in Daunenjacke. Aber wir tun so: Wenn ich in normalen Zeiten meine Alltagsstrukturen im Juli mit denen im Dezember vergleiche, gibt es da nicht viel Unterschied. Außer, dass ich weniger Rad fahre und statt Aperol Spritz Rotwein trinke. Ich stehe zur gleichen Zeit auf, ich habe ungefähr dieselbe Menge zu tun, ich interessiere mich immer noch für gleichen Dinge, nur, dass ich dabei öfter friere.
Ich glaube, die wahre Ursache für Niedergeschlagenheit im Winter liegt nicht in der Jahreszeit, sondern in der Tatsache, dass wir uns aufgrund einer stark strukturierten Lebensweise nicht daran anpassen können. Im Winter müsste man eigentlich ein paar Dinge bewusst anders machen und akzeptieren, dass jetzt andere Prioritäten herrschen. Zum Beispiel, dass man jetzt nicht mehr alle Endorphine schon Anfang des Monats ausgeben kann. Dass man vielleicht langsamer und introvertierter wird für ein paar Monate. Deshalb war die wichtige Erkenntnis:
Es ist Winter. Jetzt. Und morgen auch noch. Deal. With. It.
Die gute Nachricht ist: Alles, was sich im Sommer ein bisschen schlecht angefühlt hat, geht im Winter wunderbar, im Home-Office sowieso. Im Schlafanzug bleiben und sich möglichst wenig bewegen. Einfach weiterarbeiten, weil einem draußen sowieso nichts entgeht. Sich lange liegengebliebenen Aufgaben, Papierstapeln oder vernachlässigten Hobbys widmen. Freunde nach Hause einladen, wenn das überhaupt möglich ist. “Herr der Ringe” im Director’s Cut anschauen und sich dreimal dreieinhalb Stunden lang fragen, ob die Augen von Elijah Wood wirklich so krass blau sind. (Sind sie nicht).
In meinem Kopf herrschte immer eine Art Durchschnittssaison, in der ich von mir erwartete, konstant zu funktionieren und Schwankungen in Außentemperatur, Laune oder Energie sofort und unbemerkt zu korrigieren wie eine moderne Klimaanlage.
Alexa, starte Wintermodus!
Es mag unlogisch klingen, aber ich habe lange gebraucht, um Sommer und Winter als zwei unterschiedliche Modi operandi zu begreifen. In meinem Kopf herrschte immer eine Art Durchschnittssaison, in der ich von mir erwartete, konstant zu funktionieren und Schwankungen in Außentemperatur, Laune oder Energie sofort und unbemerkt zu korrigieren wie eine moderne Klimaanlage. Mir gefällt der Gedanke, dass wir uns im Winter verpuppen. Das zu Ende gehende Jahr schon mal ein wenig archivieren, auf dem Sofa Pläne schmieden, hinter den Kulissen des nächsten Sommers schon einige wichtige Weichen stellen. Das hat Drake mit “work all winter” vermutlich nicht wörtlich gemeint, aber ich lege es so aus. Geistige und emotionale Arbeit ist auch Arbeit! Im Sommer hätte niemand Lust gehabt, zusammen mit Marie Kondo den Keller oder den Küchenschrank auszumisten.
Seit ich mir selbst erlaube, im Sommer höchstens zum Schlafen und zum Blumengießen nach Hause zu kommen (Drake: “24-hour Champagne diet!”) und ich es meinem Winter-Ich gestatte, in meiner Freizeit nichts anderes als genau das zu tun, kollabiert meine Stimmung nicht mehr ab Oktober. Vielmehr ist es so, dass ich mich auf diese Pause freue, auch auf die Langeweile, die Dunkelheit. Drakes Zitat hat mich dazu motiviert, meinen eigenen Entwurf von “Saisonarbeit” zu definieren. Mit dem Ergebnis, dass ich egal in welchem Monat immer weiß, wofür ich aufgestanden bin. Oder halt liegengeblieben.
Alles, was sich im Sommer ein bisschen schlecht angefühlt hat, geht im Winter wunderbar. Um 18 Uhr den Schlafanzug anziehen und sich nicht mehr bewegen.
Ilona Hartmann