Segen oder Fluch? Wie Twitter unsere Debattenkultur beeinflusst

© Marten Bjork | Unsplash

Ich war immer Fan des gedruckten Wortes – und bin es bis heute geblieben. Vielleicht weil ich noch immer das Gefühl habe, wenn etwas gedruckt wird, ist es besser durchdacht, von mehreren Seiten beleuchtet. Aber als Kind der sogenannten Generation Y bin ich auch mit dem Internet aufgewachsen und habe schon sehr früh verinnerlicht, Informationen nicht nur schnell und komprimiert zu konsumieren, sondern auch zu kommentieren. Heute arbeite ich als Online-Redakteurin. Der Gebrauch und die tägliche Arbeit mit verschiedenen Social-Media-Plattformen wie Facebook oder Instagram ist mein täglich Brot geworden.

Es hat zwar verhältnismäßig lange gedauert, aber seit Kurzem treibe ich mich auch auf Twitter herum. Mir war zwar zu Ohren gekommen, dass dieses Twitter in Deutschland empirisch gesehen kaum von Bedeutung ist, aber da inzwischen nicht nur der amerikanische Präsident Donald Trump sein Handeln hier zuerst verkündet, sondern sogar unser hiesiger Innenminister Horst Seehofer munter durch die Welt zwitschert, habe ich beschlossen, dem Ganzen eine ehrliche Chance zu geben. FOMO lässt grüßen!

Mir war das Mikro-Blogging-Format lange suspekt. Ich vermutete, dass dort sehr viel Müll geschrieben wird und dass auch kein wirklich weiterführender Austausch möglich sei. Robert Habeck, Vorsitzender der Grünen, entschied sich vergangene Woche erst dafür, seinen Account aus genau diesen Gründen zu löschen – und weil das Medium seiner Meinung nach zu einem "Instrument der Spaltung" verkommen sei. Seitdem wird wieder mal darüber diskutiert, wie gefährlich ein Dienst wie Twitter für die demokratische Meinungsbildung und eine Debattenkultur frei von Hass, Hetze und Spaltung ist. Andere wiederum sehen in den Medium einen Zugewinn.

Schnell, immer up to date, in Echtzeit mit debattieren

Generell werden Nachrichten in immer rasanterem Tempo in die Welt hinaus posaunt. Twitter ist allein schon aufgrund seines Formats prädestiniert dafür. Das ist einerseits toll, denn nirgends kann man sich schneller updaten, sich in Echtzeit in aktuelle Debatten einklinken oder über weltweite Trends informieren. Andererseits birgt dieser Fakt auch eine Menge Gefahren, denn wo es schnell zugeht, wird weniger eingeordnet, Dinge werden aus dem Zusammenhang gerissen, manchmal unreflektiert und unkontrolliert veröffentlicht. Auf knallhart recherchierte Fakten, die das Fundament ernsthafter Debatten sein sollten, kann man hier nicht vertrauen.

Wo es schnell zugeht, wird weniger eingeordnet, Dinge werden aus dem Zusammenhang gerissen, manchmal unreflektiert und unkontrolliert veröffentlicht.

Für manche, etwa Journalisten, ist die Plattform hingegen der perfekte Ort, um spannende Themen aufzuspüren, aktive Feldforschung zu betreiben oder sich mit Gleichgesinnten angeregt auszutauschen. Das ist übrigens ein Punkt, der mich wirklich begeistert: Twitter folgt einem sehr demokratischen Prinzip, denn jeder kann hier verfolgen, teilnehmen und mitdiskutieren, in Echtzeit ohne Verzögerung. Und ich sage euch, wenn ihr den richtigen Leuten folgt, findet ihr Anregungen und Inspirationen en masse. Denn es gibt sie, die Menschen, die es schaffen in nur 280 Zeichen pointiert, sprachlich perfektioniert und mit Witz zu diskutieren. Das bewundere ich, ehrlich wahr! Aber Vorsicht: Der Suchtfaktor ist extrem hoch. Wer, wie ich, nicht aufpasst, verliert sich in den Weiten und manchmal auch Belanglosigkeiten des Netzes. Am Ende ist Twitter dann auch wieder nichts anderes als ein weiterer sinnloser Zeitfresser.

Wer twittert, muss aushalten

Auch für Personen der Öffentlichkeit, etwa Spitzenpolitiker, kann der Kanal durchaus von Vorteil sein. Via Twitter können sie nicht nur das Bild ihrer eigenen Person in der Öffentlichkeit schärfen, sondern direkt mit Usern in den Kontakt gehen, nahbarer sein und so potentiell Wähler dazu gewinnen. Die Kehrseite der Medaille? Nie gab es mehr Shitstorms als heute. Eine Minute nicht nachgedacht, einen Gedanken nicht zu Ende geführt, die Twitter-Gemeinde kennt kein Erbarmen.

Das musste zum Beispiel gerade erst die ZDF-Journalistin Nicole Diekmann erfahren, der aufgrund einer Stellungnahme über ihre politische Haltung in Form eines Hashtags (#Nazisraus) eine bittere Welle des Hasses entgegen schwappte. Überkochende Emotionen, Wortgefechte, die zum Teil unter die Gürtellinie gehen, Rassismus und Diskriminierung – all das kommt jeden Tag vielfach vor. Ermöglicht auch durch die Anonymität, hinter der sich User hier verstecken können. Da kommt viel Ungefiltertes, Leeres, Kommentare ohne Mehrwert. Aber, und das ist eben auch Twitter, Diekmann erfuhr ebenfalls wahnsinnig viel Solidarität. Letztendlich hat der Shitstorm vielleicht sogar eine neue Debatte darüber angestoßen, ob und wie jeder freie Mensch seine Meinung hierzulande kundtun darf.

Trotzdem sollte man sich immer bewusst darüber sein, dass es Hater und Trolls gibt, die bewusst Falschmeldungen in Umlauf bringen wollen, um die Gesellschaft zu spalten. Das ist die Gefahr. Wer twittert, muss das im Zweifel aushalten können – oder, wie Harbeck, gleich ganz austreten.

Die Twitter-Gemeinde kennt kein Erbarmen

Ganz klar, Twitter ist verführerisch und macht Spaß. Nirgendwo sonst findet man so viel Meinungsvielfalt, die unsere Debattenkultur im Grunde genommen ja fördert. Aber Raum und Zeit für unvollendete Gedanken, Zweifel oder Meinungsrevisionen sehe ich hier nur bedingt. Zu einem vernünftigen Meinungsaustausch gehört für mich auch, dass man sich gegenseitig zuhört, sich Zeit füreinander und zum Reflektieren nimmt. Von einem Hashtag zum Aufschrei dauert es aber mitunter nur wenige Stunden. Ein Tweet, der auf 280 Zeichen reduziert ist, kann niemals ein echtes Vis-à-vis-Gespräch oder einen wochenlang recherchierten Text ersetzen. Twitter kann deshalb nur Anstoß für Debatten sein. Danach braucht es etwas mehr Ruhe und Besonnenheit, um Debatten in eine weiterführende Richtung zu lenken.

Bevor wir etwas in die Welt "posten", sollten wir uns also fragen, aus welchen Beweggründen wir es tun, ob und für wen die Nachricht eigentlich einen relevanten Mehrwert hat. Oder wie der Welt-Korrespondent Clemens Wergin treffend gesagt hat: "Wir Bürger entscheiden am Ende, ob Twitter et cetera zu einer Bereicherung werden oder zu einer Belastung für die Gesellschaft."

Twitter kann deshalb nur Anstoß für Debatten sein. Danach braucht es etwas mehr Ruhe und Besonnenheit, um Debatten in eine weiterführende Richtung zu lenken.
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