Kinder sind dafür da, ausgebeutet zu werden

© Benjamin Hiller

"Cool trotz Kind" ist für alle Eltern dort draußen. Autor Clint berichtet von seinem Alltag als alleinerziehender Vater. Die Eskapaden, die er und seine Tochter Wanda* erleben, stehen im Zeichen einer großen Sehnsucht, einer Utopie: Man kann auch mit Kind ein wildes und freies Leben führen.

„Papa, was machen wir hier?“, will meine fünfjährige Tochter Wanda* wissen, während wir backstage auf einem Sofa sitzen. Es ist erst das zweite Mal, dass sie mich zu einem meiner Auftritte begleitet. Die anderen Teilnehmer des Poetry Slams schwirren hektisch um uns herum.

„Ich muss gleich auf die Bühne und eine Geschichte vorlesen“, sage ich. „Bleibst du kurz hier bei den anderen?“

„Nein, ich will mitkommen!“

„Aber da ist es total laut. Außerdem ist es verboten, Requisiten mit auf die Bühne zu bringen.“

Wanda stemmt stirnrunzelnd ihre Hände in die Hüften. Ich gebe nach. Und steige kurz darauf mit ihr ins Scheinwerferlicht. Die knapp dreihundert Zuschauer feixen, als ich sie neben dem Mikro auf einen Stuhl setze. Ich beginne zu lesen. Komme auch ganz gut an. Doch nach zwei Minuten zupft es an meinem Hosenbein.

„Papa, mir ist langweilig.“

„Kann ich verstehen. Aber darf ich das kurz zu Ende lesen?“

„Ich will auch irgendwas machen!“

Und dann singt sie in ihrem phonetischen Kauderwelsch „Let it go“ aus dem Disneyfilm „Frozen“. Obwohl sie damit gegen sämtliche Regeln verstößt, werden wir vom Publikum ins Finale gejubelt. Zurück im Backstage-Bereich beobachte ich die Gesichter der Anwesenden: Leuchtende Augen bei den Frauen, Belustigung oder Irritation bei den Männern. Einer ist offensichtlich empört. Das gleiche Spektrum an Reaktionen, die mir immer entgegenschlagen, wenn ich versuche, meine Rollen als Vater und Künstler unter einen Hut zu bringen.

Haben Leute, die ihr Kind regelmäßig im Internet zur Schau stellen, keinen Beschützerinstinkt?

Wie weit darf man bei der Zurschaustellung des eigenen Kindes gehen? Diese Frage stelle ich mir recht oft. Vor allem, wenn ich all die Mama- und Papablogs sehe, die den lieben Eltern als Plattform dienen, um tausende Bilder ihres Nachwuchses ins Netz zu stellen. Haben die keinen Beschützerinstinkt? Sie rechtfertigen sich, dass sie nur unverfängliche Fotos veröffentlichen würden. Niemals kämen sie auf die Idee, ihr Kind beim Scheißen abzulichten, oder wenn es sich vollgekotzt hat. Schließlich könnten diese Aufnahmen bei einem späteren Bewerbungsgespräch unvorteilhaft sein.

Aber ist dieses Herzeigen nicht trotzdem irgendwie schamlos? Ich würde meinen Eltern was husten, wenn ich beim täglichen Googlen meines eigenen Namens Babyfotos vorfinden würde. Vor allem, und das ist das Schlimmste, erzählen die meisten dieser Blogs oder Insta-Profile nicht den Hauch einer Geschichte. Was das Ganze wenigstens zum Teil rechtfertigen würde. Stattdessen benutzen diese Superdaddys und -muttis ihre Kinder ausschließlich, um sich zu profilieren, um ein bisschen Glamour in ihren kleinbürgerlichen Alltag in einem Vorort von Hannover zu bringen.

Niemals kämen sie auf die Idee, ihr Kind beim Scheißen abzulichten, oder wenn es sich vollgekotzt hat. Aber ist dieses Herzeigen nicht trotzdem irgendwie schamlos?

Natürlich sitze ich mit diesem Vorwurf im Glashaus. Zwar habe ich im Internet noch nie das Gesicht meiner Tochter gezeigt, allerdings schreibe ich Texte, in denen ich weite Teile unseres Privatlebens exponiere. Meine Tagesspiegel-Kolumne verursachte einen Streit, der dazu führte, dass wir die Kita wechseln mussten. Es gab also sogar schon direkte Auswirkungen auf unseren Alltag. Auf Wandas Alltag. Was alles andere als lustig war.

In dieser Sache bin ich jedoch so dreist zu behaupten: Da müssen wir durch. Ich bin nun mal Schriftsteller, das war ich schon lange vor Wandas Geburt. Und ich schreibe über alles, was mir passiert. Mir wurde deshalb schon oft vorgeworfen, ich würde Kapital aus meiner Vaterschaft schlagen. Ich würde mein Kind ausbeuten.

Das sehe ich ähnlich. Und ich mache auch vor Wanda keinen Hehl daraus. Sie weiß, dass ich über sie schreibe. Als sie mich zum ersten Mal auf eine meiner Lesungen begleitet hat, tat sie das auf eigenen Wunsch. Weil sie mal sehen wollte, was ich da immer mache. Die Veranstalter kümmerten sich reizend um sie. Während meines Auftritts sah ich sie am Tresen sitzen, wo sie mit ihren mitgebrachten Stiften ein Bild malte.

„Ich hab gehört, dass du vorhin 'meine Tochter' gelesen hast“, sprach sie mich auf dem Heimweg an. „Das war ich, oder?“

„Ganz genau. Da ging es um dich.“

Sie nickte und versuchte kokett ihren Stolz zu verbergen. Natürlich freut sie sich, wenn sie im Mittelpunkt steht. Und ich sehe das nicht als Freibrief. Entscheidend finde ich, dass wir offen mit dem Thema umgehen. Dass sie sich dafür interessiert, was ich mache.

Zum Poetry Slam nehme ich sie nur mit, weil mein Babysitter für den Abend absagt. Ich bin schließlich immer noch alleinerziehend, wenn Wanda bei mir ist. In der Pause, bevor wir im Finale auftreten sollen, kommt eine Dichterin zu uns und fängt eine lebhafte Unterhaltung an. Hauptsächlich mit Wanda, aber sie wirft mir zwischendurch lachende Blicke zu. Es wäre leicht, den Abstauber zu spielen. Auch dazu eignen sich Kinder hervorragend, wenn man alleinstehend ist. Zumindest erlebe ich das recht oft. Die Flirt-Signale kommen dann weniger aggressiv rüber, es ist klar, dass im Moment sowieso nichts laufen kann. Aber später dann, wenn das Kind irgendwo geparkt ist.

Für mich ist das allerdings eine Grenze, die ich nie überschritten habe. Ich fände es schäbig, mein Kind als Kupplerin zu benutzen. Wenn ich mit ihr unterwegs bin, ist sie die Frau an meiner Seite, neben der es keine andere geben kann. Deshalb zögere ich auch keine Sekunde, als sie im Backstage-Raum gähnt und sich die Augen reibt.

„Ich bin müde, Papa.“

„Dann lass uns gehen. Oder willst du nochmal auf die Bühne?“

Sie schüttelt den Kopf. Ich bin auch nicht scharf darauf. Wir verabschieden uns von der Dichterin und gehen nach Hause.

Für mich ist das allerdings eine Grenze, die ich nie überschritten habe. Ich fände es schäbig, mein Kind als Kupplerin zu benutzen. Wenn ich mit ihr unterwegs bin, ist sie die Frau an meiner Seite, neben der es keine andere geben kann.

Wie man sieht, bin ich bei alldem derjenige, der die Entscheidungen trifft. Meine Tochter ist mir auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Genauso wie jedes andere Kind seinen Eltern ausgeliefert ist. Im Moment findet Wanda die Vorstellung gut, dass ich über sie schreibe. Mal sehen, was sie dazu in zehn Jahren sagt. Wir stehen in täglichem Austausch. Und während sich andere Kinder für die Insta-Entgleisungen ihrer Eltern rächen können, indem sie später mal reich bebilderte Blogs à la „Wie ich meine Mama im Alter pflege“ ins Netz stellen, kann mein Kind es mir auf ihre ganz eigene Art heimzahlen: indem sie eine Kolumne mit dem Titel „Cool trotz Clint“ schreibt.

*Anmerkung: Der Name meiner Tochter wurde geändert.

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