Wie es ist, mit alten Eltern aufzuwachsen

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"Schau mal Marie, da kommt deine Oma!", riefen mir häufig meine Spielkameradinnen auf dem Spielplatz zu – und meinten damit meine Mutter. Der nicht seltene Zusatz "...im Bademantel!!" hatte den Hintergrund, dass meine Mutter am liebsten selbstgenähte Kleidung trug. Meist einen, aus meiner heutigen Sicht, richtig tollen Kimono-Mantel. Natürlich habe ich mich damals sehr geschämt. Ich erinnere mich an die Hitze, die ich in so einer Situation jedes Mal aufsteigen spürte, um sogleich knallrot zu werden. Und daran, dass ich meine Mutter bat, einen "normaleren" Mantel zu tragen. Dass ich mich damals für die Andersartigkeit meiner Eltern schämte, bereue ich heute natürlich zutiefst.

Als ich 15 Jahre alt war, ging mein Vater mit 65 Jahren gerade in Rente

Als Nachzüglerin bin ich ein Kind von alten Eltern. Meine Mutter war knapp 40 und mein Vater stolze 50 Jahre alt, als ich auf die Welt kam. Ich kenne beide nur mit grauen Haaren. Mir fiel das als Kind kaum auf, meine Geschwister waren zwar fünf bis 20 Jahre älter, aber das spielte erstmal keine Rolle. Meine Eltern hatten zum Zeitpunkt meiner Jugend einen Großteil ihres Lebens schon gelebt und nicht mehr das Gefühl, aufgrund ihrer Kinder irgendetwas im Leben zu verpassen oder noch auskosten zu müssen. Ganz im Gegenteil: Meine beiden Elternteile ließen uns viel mehr spüren, dass wir Kinder eine Bereicherung für ihr Leben sind und waren froh darüber, ihre Lebenserfahrung an uns weitergeben zu können. Das finde ich unglaublich schön.

Als ich 15 Jahre alt war, ging mein Vater mit 65 Jahren gerade in Rente. Für mich begann ab diesem Zeitpunkt eine richtig gute Phase: Ich bekam mehr Hilfe bei den Hausaufgaben und wir machten ausgiebiger Ferien. Außerdem war mein Vater derjenige, auf den ich mich immer verlassen konnte, wenn es um Umzüge oder Hilfe jeglicher Art ging. Plus: Meine Eltern waren insgesamt viel weniger gestresst, im Verhältnis zu Eltern meiner Freund*innen.

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Um alles in der Welt wollte ich vermeiden, an die Wahrscheinlichkeit eines früheren Todes meiner Eltern erinnert werden.

Wenig später begann sich das Verhältnis jedoch schleichend umzudrehen. Ich fing an, mich mehr und mehr um meine Eltern zu kümmern. Ich habe wichtige Entscheidungen für sie getroffen, Flüge gebucht, etwas im Internet bestellt, für Ordnung gesorgt und Arzttermine koordiniert. Das fühlte sich anfangs selbstverständlich an. Es bedrückte mich aber zunehmend, dass so viel Verantwortung auf meinen Schultern lastete.

Und dann wäre da noch die Sache mit den Sorgen. An einem Samstag vor ein paar Wochen machte ich mit meinem Vater ein Treffen aus. Wir haben verabredet, dass er in einer Stunde bei mir ist. Dass mein Vater unpünktlich ist und gerne mal eine halbe Stunde zu spät kommt, daran habe ich mich längst gewöhnt. Nach zwei Stunden Warten rief ich ihn an, um zu fragen, wo er bleibt. Ich erreichte ihn aber nicht. Auch nicht drei, vier Stunden später. Mein Bruder, der auch in Berlin lebt, hatte auch nichts gehört und so wurde meine Sorge so groß, dass ich schließlich die Nachbarin meiner Eltern googelte, um ihre Telefonnummer heraus zu bekommen. "Bereite dich auf das Schlimmste vor", sagte ich mir selbst mantraartig immer wieder vor. Mein Vater tauchte kurze Zeit später vergnügt bei mir auf – es war ihm dies und jenes dazwischen gekommen. Erleichterung. Meine Sorge war erstmal wieder vergessen.

Ist die Sorge um meine Eltern von nun an ein ständiger Begleiter?

Eine Woche später tauchte in meinem Verlauf wieder die Googlesuche nach der Nachbarin auf, was mich daran erinnerte, wie real die Sorgen waren, die ich mir machte. Ich bin generell kein überängstlicher Mensch, aber in Anbetracht des Alters meiner Eltern, der durchaus zweifelbaren Fahrtüchtigkeit meines Vater und dem ein oder anderen körperlichen Leiden scheint mir die Sorge allerdings angebracht.
Schon vor Jahren wurde bei uns zu Hause über Testamente, Erbschaften und das Bestattungsunternehmen, in welches meine Mutter regelmäßig einzahlt, gesprochen. Klar, solchen Situationen fühlen sich, wenn man sie nicht anders kennt, erstmal normal an. Trotzdem machten mir diese Gespräche schon immer Angst.

So konnte ich als Kind beispielsweise nicht mal einen Friedhof von außen ansehen, hielt mir deshalb die Augen zu und bat meine Eltern, mir Bescheid zu geben, wenn wir an dem Friedhof vorbei gefahren waren. Um alles in der Welt wollte ich vermeiden an die Wahrscheinlichkeit eines früheren Todes meiner Eltern erinnert zu werden. Das hat richtig oft weh getan. Damals wusste ich leider noch nicht, was Meditation ist und dass sie mir dabei hilft, meine Gedanken anzuhalten. Wenigstens für einen Moment.

Häufig gehen wir auf Flohmärkte oder in meine Lieblingsbars. Nicht, weil sie meine besten Freunde sind, sondern weil sie jede Gesprächsrunde bereichern.

Manchmal, wenn ich einem Cafe sitze und auf meine Eltern warte und sie von weiter weg die Straße herunter kommen sehe, spüre ich einen dollen Stich in meinem Herzen.  Sie wirken so alt und zart, wenn ich so beobachte. Und auf der anderen Seite, wie sie da eingehakt, einander behutsam stützend, auf mich zu kommen – so viel Liebe empfinde ich für diese zwei Menschen, die mit mir einen großen Teil meines Lebens gegangen sind und hoffentlich noch lange gehen werden.

Oft wurde mir die Frage gestellt, wie es ist, ohne Großeltern aufzuwachsen. Eigentlich hat mir nie was gefehlt. Meine Eltern sind alterstechnisch die gleiche Generation wie die meisten Großeltern meiner Freund*innen und können deshalb die gleichen Geschichten aus vergangenen Jahrzehnten erzählen. Vom Ende des Krieges, einer Jugend in den 50er Jahren und so weiter. Das heißt, sie haben einfach beide Rollen übernommen.

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Mein Vater ist heute 82, aber hat mehr Flausen im Kopf als so mancher seiner Altergenossen

Die Aussicht auf das Gegenteil eines langweiliges Leben mit 80 Jahren und dass man dann immer noch Flausen im Kopf haben kann, finde ich sehr schön und ermutigend. Ist mal keines meiner Elternteile bei einem Abendessen dabei, fragt immer jemand: "Marie, wo ist denn heute dein Dad?". Mein Vater ist dieses Jahr 82 geworden und ist geistig wesentlich jünger und schelmischer als so mancher seiner Altersgenossen. Ebenso meine Mutter. Wir sind erst kürzlich nach Marokko gereist. Zwischendurch ging uns das Geld aus, wir haben in Jugendherbergen geschlafen, sind mit lokalen Bussen über das Atlas-Gebirge gefahren und haben auf den lokalen Märkten gegessen. Häufig gehen wir auch zusammen auf Flohmärkte oder in meine Lieblingsbars. Nicht weil sie meine besten Freunde sind, sondern weil sie jede Gesprächsrunde bereichern.

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