Warum brauchen alle auf einmal Therapeuten und Coaches? Bringt das wirklich was?

© Nik Shuliahin | Unsplash

Ob Hardcore-Analytiker, Lovecoach, spiritueller Guru oder Berater für deinen ganz persönlichen Weg zum beruflichen Glück: An jeder Ecke wimmelt es von studierten und weniger studierten Therapeuten und Coaches. Haben psychische Probleme so stark zugenommen oder pathologisieren wir uns selbst? Und: Schmeißen wir unser Geld zum Fenster raus oder tut es uns gut, wenn wir uns alle mal auf die berühmte Couch legen? Darüber spricht Johanna mit dem Diplom-Psychologen und Coach Lorenz Wohanka.

Johanna Juni: Laut einer aktuellen Studie der Bundestherapeutenkammer stieg der Bedarf an psychotherapeutischen Behandlungen in den letzten Jahren stark an. Und die Fehltage aufgrund psychischer Erkrankungen haben sich in den letzten zwanzig Jahren sogar verdreifacht. Sind heute denn tatsächlich viel mehr Menschen psychisch krank als früher?
Lorenz Wohanka: Ich würde unterscheiden zwischen psychiatrischen Erkrankungen wie Psychosen oder Depressionen und psychischen Störungen oder Befindensstörungen. Diese Störungen haben auf jeden Fall zugenommen, weil sie auch durch das veränderte Verhalten in unserer Gesellschaft unterstützt werden. Wir erleben eine wahnsinnige Leistungsverdichtung, viele Abläufe sind schneller und gerade in Großstädten gibt es zunehmend soziale Einsamkeit.

Spielt der offenere Umgang mit Therapien bei den Zahlen auch eine Rolle?
Ja, mit Sicherheit. Früher hat man vielleicht über den Nachbarn gelacht, der den Tick hatte, die Zaunlatten zu zählen. Der hatte den Tick dann eventuell ein Leben lang, war aber wahrscheinlich nie in Behandlung – aus Angst vor Stigmatisierung. Heute ist der Gang zum Therapeuten deutlich weniger stigmatisiert.

Wir erleben eine wahnsinnige Leistungsverdichtung, viele Abläufe sind schneller und gerade in Großstädten gibt es zunehmend soziale Einsamkeit.
Lorenz Wohanka

Wenn ich an meine Großeltern denke, war das ja in der Generation gar nicht üblich, eine Therapie zu machen. Man hat mit seinen Problemen eben gelebt. Ist es denn sinnvoller, dass wir uns heute damit auseinandersetzen?
Ja und nein. Ja, weil man mit einer guten Therapie den Leidensdruck von kranken Menschen nehmen kann. Nein, wenn es dazu führt, dass gesunde Menschen nur noch in sich hineinhorchen und nicht mehr in der Lage sind auch mal ohne fremde Hilfe etwas einzuordnen oder auszuhalten. Das ist ein schmaler Grat.

Wie unterscheidet man denn zwischen Krankheit und Gesundheit?
Durch inhaltliche Diagnosekriterien, die Dauer, die Intensivität der Veränderung und den Leidensdruck. Wenn dieser hoch ist, sollte man mit einem Therapeuten gezielt am Umgang mit seinem Problem arbeiten.

Pathologisieren wir heute unsere Gefühle oftmals?
Ich weiß nicht, ob das wirklich so ist. Wenn es so ist, dann vielleicht, weil wir nicht mehr so gut in der Lage sind, Frustration und unerfüllte Gefühle auszuhalten. Unsere Großelterngeneration musste existenzielle Nöte aushalten in der Nachkriegszeit. Das ist etwas, an dem man alles andere relativieren kann. Meine Großmutter zum Beispiel ist 97 Jahre alt geworden und hat zwei Diktaturen überlebt. Sie hat viele Dinge, denen ich eine große Bedeutung beigemessen habe, als Lappalien eingestuft.

Unsere Großelterngeneration musste existenzielle Nöte aushalten in der Nachkriegszeit. Das ist etwas, an dem man alles andere relativieren kann.
Lorenz Wohanka

Vielleicht hat es auch etwas Gutes, dass wir uns mit unseren Gefühlen auseinandersetzen?
Mit Sicherheit. Viel Leid ist auch dadurch entstanden, dass Menschen sich ihren Gefühlen nicht gestellt haben. Nehmen wir als aktuelles Beispiel den Zölibat in der Katholischen Kirche, der großes Leid über viele Kinder bringt. Viele Priester haben ja Kinder – nur dürfen sie nicht dazu stehen, was in ihnen wie in den Kindern und Frauen massives Leid auslöst.

Wie erkenne ich denn einen guten Therapeuten?
Wenn ich einen Therapeuten suche, sollte dieser eine vollständige therapeutische Ausbildung auf aktuellem Stand abgeschlossen haben, also ärztlicher oder psychologischer Psychotherapeut sein. Dann sollte man unbedingt die Probesitzungen wahrnehmen – denn es ist wissenschaftlich erwiesen, dass eine gute Patient-Therapeuten-Beziehung das wesentliche Mittel zum Therapieerfolg ist.

Lorenz Wohanka. © privat

Wenn man gesund ist, aber einen Ratschlag von einem Experten benötigt – zum Beispiel, um auf dem beruflichen Weg weiterzukommen, kann anstelle einer Therapie eine Coaching-Sitzung ja durchaus sinnvoll sein. Wie erkenne ich denn einen guten Coach?
Es sollte auch hier die persönliche Beziehungsebene stimmen. Außerdem würde ich auf die Grundausbildung und Weiterbildung achten. Da finde ich auch ein psychologisches oder pädagogisches Studium eine wichtige Voraussetzung. Das Problem ist aber, dass sich viele sich mittlerweile zum Coach ernennen. Denn das ist erstmal kein geschützter Begriff, das heißt, jeder kann sich so nennen.

Warum wollen eigentlich auf einmal alle Coach werden?
Viele Menschen machen das, weil sie einen zweiten Berufsweg suchen, in dem sie mehr mit Menschen zu tun haben wollen und wo der Zugang relativ leicht ist. Oder weil sie sich eigentlich mit sich selbst beschäftigen wollen. Im Moment leben wir in einer Zeit, in der wir – aus meiner Sicht – die Menschen von Geburt an zu therapie- und optimierungsfreudigen Wesen erziehen, das zieht entsprechende „Experten“ nach sich.

Im Moment leben wir in einer Zeit, in der wir – aus meiner Sicht – die Menschen von Geburt an zu therapie- und optimierungsfreudigen Wesen erziehen.
Lorenz Wohanka

Wie könnte man denn diesem Optimierungsdrang entgegentreten?
Indem man diese Optimierungsangebote auch einfach mal ignoriert, auf sich selbst vertraut und die Bereitschaft hat, Fehler zu machen und aus eigenen Fehlern zu lernen.

Danke, Herr Wohanka!

Zurück zur Startseite