Traut euch wieder, Menschen in der Bahn anzusprechen!
Eine winterliche Samstagnacht – M10, zum Bersten voll. Schmelztiegel aller alkoholischen Fahnen die es zwischen Warschauer und Schönhauser so gibt. Vermischt mit kaltem Rauch, lautem Rausch und grellem Neonlicht, das alle Spuren der durchzechten Nacht und ihre Ernüchterung zutage bringt. Mir gegenüber sitzt ein Typ, der irgendwie hervorsticht, weil ihn das Getummel überhaupt nicht zu interessieren scheint. Vielleicht war er nicht feiern, sondern bei seinem besten Freund? Oder bei einer Filmnacht? Wo er wohl hinfährt? Verstohlen gucken wir uns an. Immer mal wieder so zwischendurch. Auffällig unauffällig.
Ein Sommernachmittag – U6, Schwartzkopffstraße. Vorsichtig gehe ich den Bahnsteig entlang und gucke immer wieder nervös um mich, ob die Luft rein ist und mich niemand beobachtet. Abgesehen von der Überwachungskamera natürlich. Aber vor der ist mir nichts peinlich. Dann hole ich ein kleines Plakat aus meiner Tasche, in DIN A4-Größe. Darauf steht: „Tom – stell dir vor, man könnte alle Atome sehen“ und darunter meine E-Mail-Adresse (die mit Fake-Namen, die man für allerhand Schmu verwendet). Das Kunstwerk hänge ich schön sichtbar neben den Fahrkartenautomaten. Jetzt heißt es warten. Was war passiert?
Warum man sich unbedingt trauen sollte, Menschen in der Bahn anzulächeln. Oder anzusprechen. Oder zu suchen.
Es war vor drei Tagen, als ich mit meiner Mitbewohnerin nur noch mal eben auf ein Bier zu der WG-Party um die Ecke wollte. Es war so gegen 10, ans Schlafen war bei der Sommerhitze ohnehin nicht zu denken und die Musik schallte uns schon von weitem entgegen. Steady as she goes. Schnell noch zum Späti um die Ecke und schon sind wir drin: Die Fenster weit geöffnet, flutet die schwüle Sommernacht herein und Jack White schallt nach draußen in den Kiez. Alles tanzt, und ein paar Bier später tue ich das auch. Mit Tom, so heißt der Typ, der ziemlich wild über die Dielen wirbelt. Kurz darauf finden wir uns mit einer Kippe vor der Tür wieder und reden über Atome. Er studiert nämlich Physik und ist gefundenes Fressen für meine vielen Fragen über schwarze Löcher und Quanten. Wir stellen uns vor, wie es wäre, wenn man alle Atome sehen könnte. Verrückt wäre das. Dann würde man sehen, dass alles miteinander verbunden ist. So wie wir grade, während wir uns angucken und anlächeln. Als wir wieder reingehen, hole ich mir in der Küche Nachschub. Und nachdem ich mich durch die Partymeute zurück ins Wohnzimmer gekämpft habe, ist Tom verschwunden. Auch vor der Tür keine Spur von ihm. Das einzige, was ich von ihm weiß, ist sein Name. Und dass er in der Nähe der U-Bahn-Station Schwartzkopffstraße wohnt. Ein paar Tage und ein paar Nachforschungen später das Unglaubliche: Man findet ihn weder bei Facebook, noch weiß sonst jemand, wer dieser mysteriöse Tom sein soll.
Wir stellen uns vor, wie es wäre, wenn man alle Atome sehen könnte. Verrückt wäre das. Dann würde man sehen, dass alles miteinander verbunden ist. So wie wir grade, während wir uns angucken und anlächeln.
M10, Greifswalder Ecke Danziger. Ich stolpere aus der überfüllten Tram, biege in die Greifswalder Straße ein, auf dem Weg nach Hause. Bis ich merke, dass mir jemand folgt. Nervös drehe ich mich um und erkenne im Halbdunkel den Typen aus der Bahn. Er grinst verlegen und ich bleibe stehen und grinse zurück. Wir laufen ein Stück gemeinsamen Weges und philosophieren angetrunken in die Nacht hinein. An einer Weggabelung halten wir inne, um uns zu verabschieden. "Wie wäre es mit einem Gutenachtkuss?", frage ich. Gesagt, getan. Gesehen haben wir uns danach nie wieder. Was bleibt, ist ein magischer Moment.
Freitagnachmittag – ICE nach Berlin. Jetzt bestellt er schon das zweite Weizen. Auf'n Nachmittag. Gefällt mir irgendwie. Dabei liest er irre viele Zeitungen, ich glaube ich habe noch nie jemanden in der Bahn gesehen, der so viele Zeitungen im Gepäck hat. Gefällt mir auch. Wir lächeln uns an. Und ich find mich ganz schön albern. Ist aber egal, weil es Spaß macht. Kurz darauf erreichen wir den Hauptbahnhof. Als ich aussteige, geht gerade die Sonne unter und flutet alle Gleise mit goldenem Licht. Die Berliner Bahnhofssonnenuntergänge sind ja mit die Schönsten, die es so gibt auf der Welt. Vielleicht hilft mir das dabei, kitschig zu sein, denn ich beschließe, jetzt nicht zu gehen. Ich bleibe am Bahnsteig stehen und warte waghalsig darauf, dass ein weizentrinkender Zeitungsleser aussteigt. Als er mich erspäht, steuert er auf mich zu. Wir machen uns peinliche Komplimente (sowas mit schöne Augen und tolle Haare) und tauschen Nummern aus. Am Abend kriege ich eine Nachricht. Da führe ich gerade in einem Café ein Interview. Und wie es der Zufall will, wohnt er bei einem Freund direkt gegenüber und macht den selben Job wie ich. Wir fragen uns kurz, ob wir Opfer der Truman-Show geworden sind, beschließen dann aber einfach Bier zu trinken und reden eine ganze wundervolle Nacht hindurch.
Wir lächeln uns an. Und ich find mich ganz schön albern.
U6 – ich checke meine Mails und da sind tatsächlich drei Nachrichten von Menschen, die mein Plakat gelesen und mit mir über Atome philosophieren wollen. Und noch eine vierte Nachricht. „Wenn man alle Atome sehen würde, meinst du, die Menschheit würde dann endlich kapieren, dass wir alle miteinander verbunden sind?“ Was ich Tom daraufhin geantwortet habe, weiß ich nicht mehr. Aber eine Woche später verabreden wir uns zu einem unserer vielen Sommerabende. Am Gleisdreieck.