"Ich muss aufhören, zu denken, dass ich Leute ändern kann" – Das habe ich aus einem Jahr Dating gelernt

© Hella Wittenberg

In seiner Kolumne “Romeo und Julius” erzählt Autor Julius Geschichten von seiner Suche nach der Liebe in Berlin. Von schrägen Dates, gebrochenen und geheilten Herzen und der schimmernden Hoffnung, dass es den einen Romeo da draußen geben muss. Das ist Episode 11, das Staffelfinale.

Ich robbe auf die obere Bettseite und lege meinen hochroten Kopf in die Kuhle seiner Achsel. Mein Atem weht schnell über seine Brusthaare, mein Herz pocht noch schneller. „Ist es schlimm, wenn ich jetzt sage, dass das richtig gut war und du richtig wow warst“, flüstere ich zögernd, gerade so laut, dass er es hören kann. „Gar nicht. Das war sehr, sehr schön“, antwortet er mit einem basslastigen Vibrato, wie ich es schon lange nicht mehr in meinem Schlafzimmer gehört, aber so sehr vermisst habe. „Du zitterst ja noch“, erfühlt er meinen Oberarm, während sich morgendliche Sonnenstrahlen über seinen Oberkörper legen und mein rechter Zeigefinger selbstbestimmt über seine Hüftknochen wandert. „Das kitzelt”, sagt er, greift ruckartig nach meinen Schultern, zieht mich ganz nah an sich heran und küsst mich. Seine Finger fahren dabei fest über meinen Hinterkopf über jede einzelne Haarwurzel. Zwischen den Küssen schnappe ich nach Luft. „Ich glaube, wir sollten uns mal die Zähne putzen“, puste ich an seiner Backe vorbei, damit er meinen Mundgeruch nicht riechen kann. Als würde das jetzt noch einen Unterschied machen. „Ach Quatsch, wir bleiben noch ein bisschen liegen“, sagt der Unbekannte aus dem Club, wieder mit ganz viel Bass.

Als wären wir Teenager

Wir bleiben nicht noch ein bisschen in meinem Bett liegen, sondern eine ganze Weile. Lassen die Welt, die draußen Brötchen holt und Sonntagszeitung liest, Welt sein und reden über Freunde, die wir aus den Augen verloren haben und Serien, die wir schon immer mal schauen wollten, bisher aber nie gesehen haben. „Ich mag wie deine Stimme klingt“, sagt er irgendwann, während er in mein Ohrläppchen beißt. „Das sagst du doch bestimmt zu jeder deiner Eroberungen“, ziehe ich das Kompliment reflexartig ins Lächerliche und bereue es noch im selben Moment. Manchmal kann ich meine Unsicherheiten wirklich nicht verbergen und – wer sagt eigentlich noch "Eroberungen"?

Er lacht. „Vielleicht“, grinst er über beide Ohren, das „Vielleicht“ extra langgezogen. Ich reagiere betont entsetzt, stelle mich auf und gehe in den Angriff über. „Vielleicht? Vielleicht?“, rufe ich so laut, dass es durch meinen Hinterhof knallt und starte eine Kitzel-Attacke, als wären wir Teenager. „Nein, nein, das sage natürlich ich nicht immer“, gibt er, unter der Bettdecke verkrochen, schließlich auf. Ich stemme mich über ihm ab und ziehe die Decke aus seinem Gesicht. „Versprochen?“, hauche ich, von ein paar Sekunden Kitzeln völliger außer Puste. „Versprochen – und weißt du was ich am nächsten Morgen wirklich nie mache?“, fragt er spitz, schmeißt mich unter sich, kreist mit seiner Zunge über meine linke Brustwarze, blickt kurz hoch, geht zur rechten Brustwarze über und fährt langsam tiefer. „Fuck!“, rufe ich und wieder echot meine Stimme durch den Hinterhof.

Auf meine Narbe am Bauchnabel hat mich bisher noch nie jemand angesprochen. Insgesamt verbrachten meine vorigen Bettpartner wenig Zeit mit meinem Bauch.

„Was hast du da eigentlich?“, haucht er, als er zehn Minuten später mit seinem Zeigefinger über meinen Bauchnabel fährt. Jetzt ist er es, der ganz aus der Puste ist. „Blinddarm-OP“, antworte ich überrascht, denn – auf meine Narbe am Bauchnabel hat mich bisher noch nie jemand angesprochen. Insgesamt verbrachten meine vorigen Bettpartner wenig Zeit mit meinem Bauch alias der Körperregion, die mich am unsichersten macht. „Hat das wehgetan?,“ fragt er weiter und ich muss mich kurz zusammenreißen, dass ich nicht genau in diesem Moment vor ihm knie, um einen Antrag zu machen. „Nicht wirklich”, sage ich stattdessen entspannt. „Und jetzt – Zähneputzen? Duschen?“ springt er vom Bett auf und öffnet die Tür zum Badezimmer. „Ja”, antworte ich und bin gedanklich schon am Traualtar.

David

„Wen würdest du auf eine einsame Insel mitnehmen?“, fragt David später in meiner Küche. An seinen Namen hat mich gerade eine iPhone-Notiz erinnert, die ich in weiser Voraussicht gestern Nacht noch im Club geschrieben habe, bevor bei uns alle Lichter ausgingen. „Ist das jetzt so eine Kennenlern-Frage, die ich super intellektuell beantworten muss?“, sage ich abgelenkt, weil ich vom Sofa aus betrachte, wie er in Boxershorts vor meiner Herdplatte steht, Eier in die Pfanne schlägt und dabei unverschämt gut aussieht. Er erinnert mich an eine dieser antiken Statuen im Alten Museum, nur dass die meistens keine Pfanne in der Hand hatten. „Nein, einfach 3 Personen, die du mitnehmen würdest.” – „Okay”, starte ich, „für den Unterhaltungsfaktor nehme ich Khloé Kardashian mit, meine Mom ist dabei, weil sie alles weiß und kann, und Jamie Dornan kommt mit, weil er Jamie Dornan ist. Wobei – wenn ich gerade so drüber nachdenke, muss Mom leider fliegen. Das wäre komisch mit ihr und Jamie. Und Khloé muss auch raus, sonst hat Jamie ja Alternativen. Also eigentlich sind es nur Jamie und ich auf der einsamen Insel.“ David dreht sich mit dem Rücken zu mir, seine Schulterblätter zucken vor lachen. „Du Idiot!“, schrecke ich von der Couch hoch und zwicke ihn in die Taille. „Popkultur ist auch Kultur.“ – „Naja“, beginnt er seine Reise spöttisch, „ich hätte schon mit meinem Lieblingsautoren, Shakespe...“. Ich drücke seinen Mund zu. „Ich hoffe für dich, dass das ein richtig gutes Omelette wird“, sage ich, im Versuch, mich selbst dabei ernst zu nehmen, gebe ihm einen Kuss und lehne mich in seine Achsel.

Das Coming-Out

Nach dem Frühstück landen wir auf der Couch. Bein über Bein, Arm unter Kopf gelegt. Und obwohl mein Bauch vollgefressen für mich noch mehr Problemzone ist, hält er ihn fest, als würde er zu ihm gehören wie einen Kängurubeutel. „Ich weiß, man kann das als schwuler Mann nicht mehr hören, aber wie war eigentlich dein Coming-Out?“, frage ich, als der Abspann der ersten Folge von Peaky Blinders über den Fernseher flimmert, was eine dieser Serien ist, die wir schon immer mal schauen wollten und nie gesehen haben und jetzt zusammen anfangen. „Das war okay“, antwortet David kurz angebunden, dann bleibt er still bis die zweite Episode startet. Ich drücke auf Pause und drehe mich zu ihm. „Okay?“, wiederhole ich. „Ja, also bei meiner Familie und meinen Freunden in Stuttgart bin ich nicht geoutet.“ – „Und wie geht es dir damit?“, greife ich in seine Haare. „Okay, ich mein, das muss ja nicht jeder wissen“, weicht er meinem Blick aus. „Okay”, sage ich, küsse seinen Hals, drehe mich um, schiebe meinen Körper wieder ganz an seinen und drücke Start.

Es vergehen 5 Minuten, dann zehn, dann zwanzig, in denen wir nicht mehr reden. Und immer wieder merke ich, wie er sich etwas entfernt und ich automatisch nachrücke. Erst als die Credits zum zweiten Mal über den Bildschirm laufen, traue ich mich, etwas zu sagen. Ich drücke erneut auf Pause und drehe mich zu ihm. „Ist alles gut?”, frage ich. „Mehr als das. Ich fühle mich bei dir sehr gut aufgehoben”, sagt er und zieht mich jetzt von sich aus ganz nah an sich und für einen Moment bleiben wir so, komplett ineinander vergraben.

Alles beim Alten?

„Wie sieht es denn eigentlich mit dir und Beziehungen aus?“, sage ich schließlich ganz ruhig, als meine Backe auf seiner liegt und ich über seinen Bart reibe. „Weiß nicht“, flüstert er, „ich bin schon auf der Suche, aber ich tue mich irgendwie schwer mit Beziehung.”– „Okay”, flüstere ich zurück. „Und du?“, sagt er lauter. „Ich, ich will diese eine Person kennenlernen, mit der ich alles teilen kann. Und zwar so richtig. Eine Person, die mich anschreit, wenn ich zu verkopft werde und trotzdem zuhört, wenn ich über mein Kopfkino erzähle.” – „Das mag ich auch“, sagt er und küsst mich.

Und plötzlich noch im Kuss, stoppt für mich alles für eine Minute und wird zum Standbild. Nicht, weil es so schön ist, sondern weil es sich so anfühlt, als hätte ich das alles schon einmal erlebt. Als wäre ich Teil der Serie Dark, in der sich alles über Generationen wiederholt, oder von Täglich grüßt das Murmeltier. Als wäre nichts neu, sondern alles beim Alten. „Noch eine Episode?”, stößt mich David abrupt aus meiner Schockstarre. „Ja”, sage ich, drehe mich wieder in die Stellung als kleiner Löffel und drücke Start, wobei mein Kopf schlagartig auf Abbruch steht.

Und plötzlich noch im Kuss, stoppt für mich alles für eine Minute. Nicht, weil es so schön ist, sondern, weil ich es sich so anfühlt, als hätte ich das alles schon einmal erlebt.

„Und jetzt seht ihr euch wirklich nicht mehr wieder?“, fragt Linda später am Telefon enttäuscht, nachdem ich David verabschiedet habe. „Ich habe seine Nummer schon gelöscht“, sage ich ruhig. „Warum denn?”, sagt sie erschrocken, „er hat dir Komplimente gemacht, hat deine Narbe am Bauchnabel entdeckt, sieht aus wie Achilleus.“ – „Weil ich denselben Fehler echt nicht immer wieder machen kann. Es hat sich wirklich so angefühlt, als würde ich die erste Begegnungen mit den Husky-Augen und dem Iren und all den Männern, die davor kamen, wieder durchspielen: Erst bin ich dankbar, dass sie mit mir nach Hause gegangen sind, dass sie neben mir aufwachen und mir das Gefühl geben, der schönste Mann der Welt zu sein, dann sind wir spielerisch und lustig und wie 16 und dann – dann erzählen sie darüber, dass sie nicht geoutet sind, sie nicht für sich einstehen können, Labels nicht verstehen oder in einer Jobkrise stecken und, weil ich mich mit ihnen so geborgen fühle und smart und schön, blende ich das alles aus. Und wenn sie wegrutschen, rutsche ich nach. Ich muss echt aufhören, zu denken, dass ich Leute ändern kann.”

Ich muss echt aufhören, zu denken, dass ich Leute ändern kann.

All-In

Als ich um Mitternacht wieder ganz alleine in meinem Bett liege und alles nach David und seinem Paco-Rabanne-Duft „Invictus“ riecht, zweifle ich kurz an dem Monolog, den ich Linda gehalten habe, weil mir das Zurückhalten, das Nein-Sagen verdammt schwer fällt. Und für eine halbe Stunde wälze ich mich in dieser Unzufriedenheit und überlege, David doch noch bei Instagram zu stalken. So lange, bis die kalte Berliner Frühlingsluft, die durch mein Fenster ins Zimmer weht, meinen Kopf kühler und meinen Herzschlag langsamer macht, bis ich nicht mehr zweifle und stolz auf mich werde. Denn auch nach dem letzten Jahr Dating gehe ich immer noch gerne All-In, wenn es um das Pokerspiel der Liebe geht. Ich will meinen Romeo finden. Aber ich weiß jetzt auch, dass ich nicht mehr gegen mich selbst spielen kann. Das habe ich schon zu oft gemacht. Heute, heute spiele ich für mich. Nicht gegen mich, ohne Pokerface, mit offenen Karten und auf jeden Fall – und das ist das Wichtigste – nur, wenn der Einsatz auf beiden Seiten stimmt.

Heute spiele ich für mich. Nicht gegen mich, ohne Pokerface, mit offenen Karten und auf jeden Fall – und das ist das Wichtigste – nur, wenn der Einsatz auf beiden Seiten stimmt.
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