Manche Freundschaften enden einfach – und das ist okay

© Pexels | CC0

Ich sitze bei meinem Lieblingsitaliener und habe gerade das hausgemachte Tiramisu geordert, als mein Handy auf dem Tisch vibriert. Karsten – den ich hier genauso wenig bei seinem richtigen Namen nenne wie meine anderen Freunde – hat geschrieben. "Du, sag mal, Martin hat vorhin so 'nen seltsamen Spruch bei Facebook gepostet. Geht's da um dich?"

Auf Martins Profil springt mir direkt ein Zitat ins Auge. Es geht um Freundschaften und darum, wie sie enden. Ja, ich bin mir ziemlich sicher, dass es um mich geht – zumal dieser Beitrag der einzige ist, den ich auf Martins Profil noch lesen kann. Alle anderen sind über Nacht unsichtbar für mich geworden. Ich wurde entfreundet und auch auf allen anderen Netzwerken blockiert. Dass Martin gerade hier so schnell Nägel mit Köpfen macht, überrascht mich zumindest ein wenig. Aber: Ich habe das kommen sehen.

Der Ärger nahm seinen Lauf, als ich Martin vorwarnte, dass seine Ex-Freundin zu meinem Geburtstag kommen würde. Er bombardierte mich mit ellenlangen, zunehmend bissigen Nachrichten, in denen er mich überreden wollte, sie wieder auszuladen. Er könne sonst keine Verantwortung für sein Verhalten übernehmen, warnte er mich. Eskalation mit Ansage? Darauf hatte ich an meinem Geburtstag nun wirklich keinen Bock. Ich riet Martin also, lieber zu Hause zu bleiben, wenn er nicht vorhätte, sich zu benehmen. Eine Antwort darauf bekam ich nicht mehr.

Während ich auf meinen Nachtisch warte, wird mir klar: Das war's dann wohl.

Das ist halt der Martin!

Martin war nie mein bester Freund, aber mein ältester. Wir lernten uns in der Schule kennen. Er, der verplante Wuschelkopf, schlug damals seine trashigen Science-Fiction-Romane in Packpapier ein, um sie vor neugierigen Blicken zu schützen; ich war ein Comic-Geek mit Streuselkuchengesicht. Die nerdigen Hobbys schweißten uns zusammen. Das Abitur feierten wir ebenso zusammen wie Geburtstage, Halloween-Parties, Uni-Abschlüsse oder das erste Gehalt.

In den folgenden Tagen und Wochen spricht Martins Entscheidung sich im Freundeskreis rum. Er hält auch nicht hinterm Berg mit seiner neu entdeckten Abneigung gegen mich. Partys, auf denen man sich über den Weg laufen könnte, lässt er sausen. Aus der gemeinsamen Chatgruppe der Clique tritt er kommentarlos aus.

Dass es dabei bleibt, mag außer mir niemand so wirklich glauben. Martin bräuchte einfach Zeit, um runter zu kommen, glauben unsere Freunde. Selbst die Tatsache, dass er sich gern mal über mich auslässt, wird ihm positiv ausgelegt – das zeige doch schließlich, dass ich ihm irgendwie noch wichtig sei! Mein bester Freund wettet, dass Martin sich früher oder später wieder melden wird. "Das ist halt der Martin!", meint er augenzwinkernd.

Ein ums andere Mal versichere ich, dass die Situation, so wie sie sei, völlig in Ordnung für mich ist. Ich bin nicht traurig. Ich bin nicht wütend. Nicht mal Martins Lästereien stören mich. Und genau das fängt mit der Zeit an, mich zu wundern. Ist es normal, dass das Ende dieser Freundschaft mich kalt lässt? Bin ich ein schlechter Freund?

Was wäre, wenn der andere eine Weltreise antreten würde? Würdest du ihn vermissen?

Ich stelle diese Frage der Psychologin Dr. Maike Herbort. Sie beruhigt mich: Ich bin offenbar kein Monster. "Emotionale Reaktionen lassen sich nicht vorschreiben", erklärt Dr. Herbort. "Sicherlich wären viele Menschen traurig oder betroffen über das Ende einer solchen Beziehung. Schließlich ist das schon ein Verlust. Wenn diese Gefühle aber ausbleiben, dann scheint das Gefühl des Verlustes einfach nicht vorzuherrschen, sondern das der Akzeptanz, ohne Wehmut oder Melancholie."

Ließe die Beziehung zu Martin sich denn noch retten? Und wenn ja, sollte ich es versuchen? Diese Frage kann Dr. Herbort mir nicht beantworten. Sie gibt mir aber Hilfen an die Hand, um selbst die Antwort zu finden, die für mich richtig ist.

"Erstmal ist es wichtig, festzustellen und anzuerkennen, dass die Nähe zur anderen Person sich verändert hat", erläutert Dr. Herbort. "Und dann frage dich, ob du das gut oder schlecht findest. Was wäre, wenn der andere morgen eine Weltreise antreten würde? Würdest du ihn vermissen? Würdest du dich nach Gesprächen sehnen, oder wärst du eher erleichtert, dich nicht mehr treffen zu 'müssen'? Wäre es sogar schöner, stattdessen andere Menschen treffen zu können, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben?"

Ich bin baff – all diese Fragen haben sich für mich bereits wie von selbst beantwortet: Mein neuer Kino-Buddy ist Karsten geworden. Kaffee trinken gehe ich mit Emma. Und wenn es um kreative Projekte geht, sind Charlotte und Thomas meine ersten Ansprechpartner. Martins Platz in meinem Leben ist keine Woche lang unbesetzt geblieben. Ich habe jetzt einfach mehr Zeit für andere Menschen. Und das finde ich ehrlich gesagt ziemlich erfrischend.

Martin wurde nach und nach zu einem Teil meines Lebens, den ich einfach als gegeben hinnahm.

Natürlich gab es viele schöne Zeiten mit Martin. Diese Erinnerungen werden mich auch immer mit ihm verbinden. Aber am Ende war ich nur noch mit ihm befreundet, weil ich eben gewohnt war, dass wir Freunde waren.

Dabei blendete ich seine schlechten Eigenschaften aus, die im Laufe der Jahre immer auffälliger wurden. Ich fand mich damit ab, dass er immer und überall zu spät kam. Ich schwieg, wenn er an unseren Freunden nach Makeln und Unzulänglichkeiten suchte, über die er dann ausführlich herzog. Ich tolerierte sein Bedürfnis, stets im Mittelpunkt zu stehen. Meist funktionierte das ganz gut. Manchmal, wenn Martin den Bogen wieder überspannt hatte, ärgerte ich mich dann doch über diese Marotten – aber am Ende sagte ich mir: "Das ist halt der Martin!"

Genau da lag, schätze ich, mein Fehler – und der Grund für meine Gleichgültigkeit. In dem Moment, in dem ich anfing, Martins Fehltritte zu entschuldigen, hörte ich auf, ihn als Gegenüber ernst zu nehmen. Mit jedem "Das ist halt der Martin!" hörte er ein Stückchen mehr auf, mein Freund zu sein. Stattdessen wurde er nach und nach zu einem Teil meines Lebens, den ich einfach als gegeben hinnahm – wie ein Projekt, ein schwieriger Kunde, oder der Onkel, der alle Jahre wieder die Familie mit seinen Geschichten aus dem Krieg traktiert.

Von mir aus wäre ich wohl trotzdem nicht so bald auf die Idee gekommen, mit Martin zu brechen. Es fehlte der konkrete Anlass. Dass es passiert ist, geht aber in Ordnung. Ich schätze, wir sind so beide besser dran.

Zurück zur Startseite