Wer keine Jogginghose besitzt, hat sein Leben an die Kontrolle verloren

© Frank Flores | Unsplash

Es gibt ja diese Tage. Da schleppt man sich vom Bett zur Dusche zur Kaffeemaschine zur Arbeit, tut ein paar Stunden lang irgendwas, das einem noch mehr die Kräfte raubt und steuert nach Feierabend wie ein kleiner müder Roboter nach Hause. Einziger Antrieb: der Gedanke an die Jogginghose und das Sofa. 

Ging mir neulich auch so. War eine ganz angenehme Vision: in zerbeulten Stoff die ohnehin schon ruinierten Bandscheiben auf dem durchgesessenen Sofa aushängen und sich einfach von irgendwas berieseln lassen, was der Streamingdienst gerade so hergibt. Wundervoll. Schon allein der Gedanke daran hat mich entspannen lassen. Bis mir auffiel: Ich hab ja gar keine Jogginghose mehr! Das hat mich nachdenklich gemacht. Wie nur konnte mir das passieren?

Ein Leben ohne Jogginghose ist möglich, aber rastlos

Ich glaube ja, dieser Umstand ist symptomatisch für die Stadt, in der ich lebe, und die Lebensphase, in der ich mich befinde. Berlin ist eine Stadt für Ausdauerläufer. Damit meine ich nicht die vom Marathon. Sondern die ganzen jungen bis mittelalten Menschen zwischen Anfang 20 und Ende 30, die Lust und Kraft haben, große Dinge zu schaffen: ihr Studium, ihren ersten Job, die Selbstständigkeit, das eigene Unternehmen großziehen und nebenher die Kinder. Dafür muss man eine Menge laufen, im wörtlichen und im übertragenen Sinn. Die Aufregung darüber, neue und eigene Wege gehen zu können, belohnt oft mit viel Energie und der Schaffenskraft, über Monate hinweg produktiv zu sein, ohne eine Zwischenlandung einlegen zu müssen. Wer gut auf sich aufpasst, macht das natürlich trotzdem. Die Batterien aufzuladen geht sehr gut und vielleicht sogar schneller, wenn man dabei eine Jogginghose anhat. Das ist nicht empirisch bewiesen, aber versuch mal, in einer engen Jeans eine ganze Pizza zu essen oder in Embryonalstellung ein Nickerchen zu machen.

Ich weiß, natürlich gehört in Berlin die Jogginghose zu einem durchaus gesellschaftlich akzeptierten Kleidungsstück. Aber ich kenne noch aus früheren Zeiten, dass in Jogginghose zur Arbeit gehen nicht bedeutet, sich dort wie zu Hause zu fühlen, sondern vielmehr den Wunsch ausdrückt, möglichst schnell wieder dorthin zurückzukehren. So oder so: Vor gut einem Jahr habe ich aus nicht mehr rekonstruierbaren Gründen oder vielleicht auch nur übertriebenem Ehrgeiz meine Jogginghose entsorgt und mir damit eventuell größeren psychischen Schaden zugefügt, als es alle Social-Media-Apps auf meinem Handy je könnten. Vielleicht hatte ich insgeheim die Hoffnung, dadurch selbst ein bisschen weniger schlabberig zu werden, so mental. Aber was wäre eigentlich so schlimm an ein bisschen geistiger Vernuschelung?

Vor gut einem Jahr habe ich (...) meine Jogginghose entsorgt und mir damit eventuell größeren psychischen Schaden zugefügt, als es alle Social-Media-Apps auf meinem Handy je könnten.

Harte Zeiten erfordern weiche Maßnahmen

Ich erinnere mich an Zeiten, da habe ich in Sportklamotten geschlafen, um am nächsten Morgen gleich zum Sport gehen zu können. Ich erinnere mich an Momente, in denen ich in der unbequemsten aller Bundfaltenhosen einfach eingepennt bin. Ich erinnere mich an den Tag, als ich eine ausgeleierte Strumpfhose fand und sie das bequemste war, das ich seit Monaten am Körper getragen hatte. Traurig ist das, nichts anderes als traurig. Ich bereue nicht die ganzen erreichten Ziele aus meiner jogginghosenfreien Zeit, aber ich bereue, dass ich zu keinem Zeitpunkt auf die Idee kam, mich mit einer neuen, riesigen, umarmenden Jogginghose bei mir dafür zu bedanken. 

Wo Karl Lagerfeld noch befand, Jogginghosenträger hätten die Kontrolle über ihr Leben verloren, möchte ich als müde Frau mit vollem Terminkalender diese Aussage aktualisieren: Wer keine Jogginghose besitzt, hat das Leben an seine Kontrolle verloren. Und weil das ein Umstand ist, den ich für niemanden und in keiner Lebensphase für empfehlenswert halte, verordne ich mir jetzt eine neue Jogginghose. Empfehlungen zu besonders entspannenden Modellen werden dankend entgegengenommen.

Wer keine Jogginghose besitzt, hat das Leben an seine Kontrolle verloren.
Zurück zur Startseite