Die einzige wirksame Waffe gegen Wichtigtuer, Drama-Queen und Möchtegernmusiker bleiben meine Kopfhörer
"Wir können uns ja connecten am Sonntag. Äh, Moment, da hab' ich Couples Day. Also wir. Na, Carmen und ich. Wir machen einmal alle zwei Wochen was zusammen. Nur wir zwei. Das verläuft sich sonst so, weißt du? Lebt man sich ganz schnell auseinander. Prenzlauer Berg und so."
Es ist unmöglich, nicht mitzuhören. Der Startup-Hipster mit dem Herren-Dutt und dem akuraten Drei-Tage-Bart lehnt sich an meinen Sitz in der S-Bahn wie an einen Bartresen. Wäre er nicht so in sein Gespräch vertieft, würde er wahrscheinlich ein sojafreies Craft Beer aus Nepal bei mir ordern wollen. In Berlin gehe ich nie ohne Kopfhörer aus dem Haus. Jedenfalls nicht freiwillig. Jetzt erinnere ich mich auch wieder, warum.
„Läuft, läuft!“, versichert der Hipster nun. „Der Traffic geht durchs Dach! Ich hab' schon fast keine Lust mehr, morgens die Stats zu checken – ich weiß ja, das wir's gerockt haben!“ Er lacht glucksend, und wenn Lügen brennbar wären, würde er an diesem schwülen Frühlingstag in Flammen aufgehen wie Dracula im Sonnenlicht. Eins steht fest: Wenn der wählen müsste zwischen Stats checken und Sex, würde er sich für die Stats entscheiden.
Ostkreuz. Die Türen öffnen sich. "Mit diese Biatch? Dein Ernst? Ob das dein Ernst ist, hab' ich gefragt?“
Neben einem Schwall stummer Fahrgäste wird auch eine neue Lärmquelle in die S-Bahn gespült, und ja, sie hat wirklich „Biatch“ gesagt. Einen Sitzplatz kriegt die junge Frau mit den viel zu langen Fingernägeln und den aufgemalten Augenbrauen nicht mehr – also bleibt sie einfach direkt im Eingangsbereich stehen, so auch ja niemand die neueste Folge ihrer persönlichen Daily Soap verpasst.
„Alter, was laberst du?“, rotzt sie ins iPhone. „Wer soll dir die Scheiße glauben? Schwör'?“
Mit diese Biatch? Dein Ernst? Ob das dein Ernst ist, hab' ich gefragt?Die Drama Queen
Der Hipster schaut sich irritiert um. „Sorry, sorry, hier ist gerade so eine Drama Queen eingestiegen“, sagt er ins Telefon. Er steckt sich den Zeigefinger ins freie Ohr, um besser hören zu können und wird selbst ein ganzes Stück lauter. „Ja, klar machen wir! Wir haben diesen grandiosen Italiener um die Ecke! Der Küchenchef kommt als Sizilien, da hab' ich nachgefragt. Da werden dir keine Türken untergejubelt!“
„Story!“, keift Drama Queen. Kurz stelle ich mir vor, sie meine den Hipster, aber sie ist viel zu beschäftigt mit ihrem Streit, um den überhaupt zu beachten. "Alter, du bist so ein Hundesohn, weißt du? Schwörst auf deine Ma und lügst in mein Gesicht! Ich fick' dich! Ich fick' dich und deine ganze behinderte Familie!"
„Was?“, ruft der Hipster in sein Handy, während die Drama Queen eine nicht enden wollende Tirade an Flüchen vom Stapel lässt. „Sorry, das hab' ich jetzt akustisch nicht verstanden. Die rastet gerade völlig aus hier. Leute gibt's...“
Unvermittelt fängt weiter vorne im Waggon ein Straßenmusikant an, sein Lied zu spielen – und ich benutze die Worte "Lied" und "spielen" hier sehr großzügig. Das Geschrammel hört sich, als würde jemand eine lebendige Katze über ein Waschbrett rubbeln. Wenigstens werden sowohl der Hipster als auch die Drama Queen übertönt. Immerhin etwas.
Wir haben diesen grandiosen Italiener um die Ecke! Der Küchenchef kommt als Sizilien, da hab' ich nachgefragt. Da werden dir keine Türken untergejubelt!Der Startup-Hipster
Die Bahn hält am S-Bahnhof Charlottenburg. Hier muss ich umsteigen. Ein Glück. Der kurze Fußweg zur U7 ist eine Wohltat für meine gequälten Ohren. Auf dem U-Bahnhof lasse ich mich neben einem älteren Herren auf einer Bank nieder. Herrliche Stille umgibt uns.
Bis sein Handy zu dudeln anfängt. Er holt es aus der Hosentasche – und beginnt unvermittelt, auf Russisch hineinzubrüllen. Dazu gestikuliert er wild. Es klingt nach wüsten Beschimpfungen und wüsteren Drohungen, dabei sagt er Wirklichkeit vermutlich einfach nur, "Ja, klar, ich bring' Milch mit."
Jedenfalls entscheide ich mich, das zu glauben. Ich lehne mich zurück und lausche dem Wortschwall, vom dem ich kein einziges Wort verstehe. Wie angenehm es ist, manchmal einfach nichts zu verstehen.
Wie angenehm es ist, manchmal einfach nichts zu verstehen.