Schienenersatzverkehr: Protokoll einer modernen Odyssee

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Es gibt wenige Buchstabenkombinationen, die der Berliner mehr fürchtet als "SEV". Was offiziell Schienenersatzverkehr heißt, entwickelt sich selbst für leiderprobte Fahrgäste oft genug zum Höllenritt. Der kluge Berliner versucht deshalb, den SEV zu umgehen, wo immer es geht. Vielleicht ist der Grund, warum die Bahn ihn gern zu den unmöglichsten Zeiten auf den unmöglichsten Strecken einführt. So wurde etwa den gesamten Oktober über die Ringbahn zwischen Jungfernheide und Gesundbrunnen für Bauarbeiten lahmgelegt.

Wenn's im Ring hakt, ist das ärgerlich genug. Doppelt ärgerlich war es für meine Wenigkeit – die Strecke zwischen Beusselstraße und Wedding ist nämlich ziemlich exakt mein Arbeitsweg. Statt ein paar Stationen Ringbahn erwartete mich nun also: SEV.

7.00 Uhr
Ich verlasse meine Wohnung. Alles ist gut – so gut, wie es an einem Montag um sieben Uhr morgens eben sein kann, wenn man sich gerade auf den Weg zur Arbeit macht. Doch am S-Bahnhof erwartet mich eine Hiobsbotschaft: Statt einer Viertelstunde Ringbahn erwartet mich heute Schienenesatzverkehr.

7.05 Uhr
Ich finde die Haltestelle. Der nächste Ersatzbus soll immerhin schon um zehn nach sieben kommen.

7.20 Uhr
Der Ersatzbus kam nicht. Stattdessen kamen ungefähr zweieinhalb Zugladungen an wartenden Passagieren an.

7.25 Uhr
Noch immer kein Bus, dafür immer mehr Wartende. Auf dem Bürgersteig sieht es aus, als würde eine spontane Demo stattfinden. Ich rechne jede Sekunde damit, dass ein besorgter Anwohner die Polizei ruft. Ob die wohl eher da wäre als der Ersatzbus?

7.28 Uhr
Der Ersatzbus fährt ein. Eine Welle der Erleichterung geht durch die wartende Menge.

7.30 Uhr
Der Ersatzbus ist schon voll wie Omi am ersten Weihnachtstag. Daher fährt der Fahrer einfach an der Haltestelle vorbei. Ich stelle mir vor, dass er dabei unschuldig vor sich hin pfeift. Eine Welle des Hasses geht durch die wartende Menge.

Das Einsteigen läuft unter demselben Motto wie 'Game of Thrones': You win or you die.

7.33 Uhr
Der nächste Bus fährt ein – und hält an. Das Einsteigen läuft unter demselben Motto wie „Game of Thrones“: You win or you die. Ich schweige lieber darüber, wie ich es in den Bus schaffe und sogar einen Sitzplatz ergattere. Ich bin nicht stolz drauf, aber es war notwendig. Chaos is a ladder.

7.35 Uhr
Der Bus biegt um die nächste Ecke und kommt zum Stehen. Stau.

7.40 Uhr
Die ersten Fahrgäste beginnen zu nörgeln. Ein Kleinkind weint. Der Fahrer schweigt. Ich überlege, ob Schienenersatzverkehr in Wahrheit vielleicht ein geheimes Projekt der Regierung ist, um möglichst schnell seelen- und skrupellose Killermaschinen zu erschaffen.

7.47 Uhr
Der Bus schafft es um die nächste Ecke, um dann wieder stehen zu bleiben. Online lese ich, dass ein Sprecher der Bahn dazu rät, den SEV der Bahn nicht zu nutzen. Genau mein Humor.

7.55 Uhr
Der Fahrer schaltet den Motor ab. Ich überlege, meinen nächsten Geburtstag hier zu feiern. Das ist zwar noch fast ein Jahr hin, aber wer weiß.

8.11 Uhr
Ich rufe auf der Arbeit an, um Bescheid zu sagen, dass ich vielleicht irgendwann komme. Ich überlege, ob Lieferando und Co. wohl in den SEV liefern. Dass dieser Bus sich bis zur Mittagszeit nochmal bewegt, sehe ich nicht kommen.

8.40 Uhr
Der Fahrer lässt den Motor wieder an. Wir halten die Luft an. Der Bus fährt ein paar Meter vorwärts... und stoppt.

8.42 Uhr
Vielleicht ist das hier sowas wie 'ne umgekehrte „Speed“-Situation und der Bus explodiert, wenn er schneller als 1 km/h fährt?

9.17 Uhr
Jemand weint. Immer noch oder schon wieder. Diesmal bin ich mir nicht sicher, ob es ein Kleinkind ist und ich will es lieber auch nicht rausfinden.

Online lese ich, dass ein Sprecher der Bahn dazu rät, den SEV der Bahn nicht zu nutzen. Genau mein Humor.

9.38 Uhr
Ich schaue durch die dicken Glasscheiben des Busses auf die Welt da draußen und muss mir eingestehen: Ich weiß nicht, ob ich in ihr noch zurechtkäme. Ich war einfach zu lange in diesem Bus. Die Außenwelt ist mir fremd geworden.

10.10 Uhr
In der Mitte des Buses wird ein Lagerfeuer angezündet. Wir versammeln uns darum und lauschen den Busältesten, die Sagen und Legenden aus dem Wareinmal erzählen, als Busse sich fortbewegten.

10.43 Uhr
Ich byn Vyktor! Koenyk von Schynarsatzverkyr! Alle knyn vor Vyktor!

11.10 Uhr
Ich kann es kaum glauben: Der Bus hält in der Nähe meiner Arbeitsstelle. Nach knapp vier Stunden ist die Reise, die eigentlich 15 Minuten hätte dauern sollen, auch schon wieder vorbei. Ging ja schneller als erwartet.

11.15 Uhr
Mir geht plötzlich auf, dass ich ja in wenigen Stunden irgendwie auch wieder nach Hause kommen muss. Ich weine.

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