And the Oscar goes to… Arschlecken

© Benjamin Hiller

Wenn es etwas gibt, das mir krass auf den Zünder geht, dann ist es die zweijährlich ausbrechende Public-Viewing-Hysterie zu den Fußballmeisterschaften. Ich glaube, dieses Phänomen gibt es seit 2006, als die Weltmeisterschaft der Herren in Schland ausgetragen wurde. Seither ist es sonderbarer Brauch, dass sich Menschen vor den Bildschirmen zusammen rotten, die sich sonst keinen Furz für Fußball interessieren.

Keine Ahnung, warum. Ist ein bisschen wie Silvester. Da denkt auch jeder Depp, dass er feiern könnte. Nein, falsch. Jeder Depp denkt, er MUSS SO TUN, als ob er feiern könnte. Diese grundlose Fußball-Euphorie ist mir genauso unbegreiflich. Wenn komplette Laien noch beim kotzlangweiligsten Euro-League-Spiel so tun, als würde auf der Leinwand gerade entschieden, ob ihre Eltern hingerichtet werden sollen oder nicht.

Public Viewing zu jedem beliebigen Anlass

Natürlich reicht der Ballsport längst nicht mehr aus, um diese Begeisterung zu befriedigen. Deshalb gibt es jetzt Viewings zu jedem beliebigen Anlass. Etwa wenn die neue Folge einer zynischen Slasher-Serie wie Game of Thrones oder Germany’s Next Topmodel ausgestrahlt wird. Oder weil in Los Angeles die Oscars verliehen werden.

Ich hab mir das noch nie angeschaut. Es interessiert mich zwar, welche Filme ausgezeichnet werden. Aber deshalb muss ich ja nicht die Nacht durchmachen. Außerdem hatte ich mal einen sehr unsympathischen Arbeitskollegen, der sich dafür immer den Montag frei genommen hat. Dadurch ist das Ganze für mich negativ vorbelastet.

Ich will trotzdem mal wissen, was für Menschen sich sowas anschauen. Raffe mich also um Mitternacht auf und fahre in die Mitte-Bar, die das Spektakel in voller Länge zeigt. Verschiedene Leute haben mir nahegelegt, mich währenddessen zu betrinken, damit ich es aushalte. Ich hingegen dachte, ich bin superschlau und betrinke mich einfach schon Sonntag früh. Damit ich dann ein bisschen vorschlafen kann. Hat auch funktioniert. Dummerweise musste ich durcheinander trinken und hab nun einen Mordsschädel.

Ich will wissen, was für Menschen sich sowas anschauen

In der Kneipe lümmeln sich an die zwanzig Leute und schauen zur Leinwand. Dort sind gerade zwei Pro7-Moderatoren zu sehen. Der eine ist Mode-Experte mit dem Charme Guido Kretschmers. Ist zwar nicht Guido, aber egal. Hauptsache, irgendwie ironisch-verschwurbelt. Heteros haben nun mal keine Ahnung von Mode. Sein weiblicher Sidekick fragt ihn gerade, was das schönste Kleid aller Zeiten auf dem roten Teppich war. Ich ahne, dass mir ein langsamer und qualvoller Tod bevorsteht.

Da lausche ich lieber erstmal meiner Umgebung. Scheint so, als würden hier alle englisch sprechen. Ein Typ, der allein gekommen ist und schon mehrfach Blickkontakt zu einer Clique von drei Freundinnen hatte, bricht das Eis, indem er sie fragt, ob die Pro7-Übertragung den ganzen Abend auf deutsch sein wird. Die vier verstehen sich ganz gut, tuscheln und lachen. Es dauert nur einen Augenblick, da dreht sich eine Mittvierzigerin zu ihnen um.

„Ähm, sorry“, sagt sie mit deutschen Akzent. „I can't listen to ssis, because I heff to listen to you: So please don't talk, so I can listen to ssis, ok?“

STIMMUNG, denke ich. Dabei fällt mir auf, dass ich der einzige mit einem Bier auf dem Tisch bin. Die Barkeeperin bemerkt es auch und dreht eine demonstrative Runde. Derart in die Ecke gedrängt, bestellen auch die anderen widerwillig diverse Heißgetränke. Für eine Weile verfolgen wir stumm die Prozession flanierender Schauspieler. Ich werde hier sicher nicht davon anfangen, wer von denen wie stark operiert ist. Klar sieht das scheiße aus, aber kann trotzdem jeder handhaben, wie er will.

Mein weibliches Umfeld hat daran allerdings große Freude. Es geht ziemlich gehässig zu. Als Selma Hayek mit einem klunkerbesetzten Kleid erscheint, überbieten sie sich gegenseitig beim Lästern.

„Oh, schau mal. Höhöhö. Wie aus Tausendundeiner Nacht.“

„Naja, in Mexiko findet man sowas bestimmt schick.“

Erstmal richtig schön lästern

Der Red Carpet-Reporter von Pro7 versucht derweil vergeblich, ein paar Stars vor die Flinte zu kriegen. Die machen aber, dass sie so schnell wie möglich an ihm vorbei in den Backstage-Bereich kommen. Derart in Not, zerrt er stattdessen zwei unbekannte Gesichter vor die Kamera:

„Und hier nun unsere Hoffnung auf einen Oscar für Deutschland! Herr Nefzer, Sie sind für die Special Effects bei Blade Runner verantwortlich. Sagen Sie ehrlich, ist das nicht aufregend hier zu sein?“

Die Nummer hat der Kerl auch schon früher gebracht. Bei den deutschen Nominierten für den besten animierten Kurzfilm. Da könnte ich ja die Wände hochgehen. Künstler kriegen es in der Regel nicht leicht gemacht, ihren Weg zu gehen. Deshalb enden die meisten auch als bankrotte Alkoholiker, für die sich keine Sau interessiert. Aber kaum hat jemand ein bisschen Erfolg, wird er sofort vom großen WIR vereinnahmt. UNSERE Hoffnung auf einen Oscar für Deutschland. Arschlecken.

Kaum hat ein Künstler ein bisschen Erfolg, wird er sofort vom großen WIR vereinnahmt.

Sieht so aus, als würde mich die Sache doch langsam einfangen. Auch die vier Amis vor mir haben sich in Rage geredet. Um den Ladys zu gefallen, plädiert der Typ gerade dafür, dass Rachel Morrison unbedingt als beste Kamerafrau ausgezeichnet werden muss.

„Eigentlich fand ich die Kamera bei DUNKIRK besser“, eifert er. „Da fühlst du einfach alles. Du bist mittendrin. Du RIECHST den Angstschweiß der Männer. Aber es wäre trotzdem die richtige Geste, den Oscar einer Kamerafrau zu verleihen.“

„I know EXACTLY what you mean“, stimmt ihm eine der Frauen zu. „Das Gleiche mit Gary Oldman. Ich meine, NO OFFENSE, der Mann hat einen Oscar verdient! He's incredible. Versteht mich nicht falsch, ich bin die LETZTE, die es ihm nicht gönnen würde. Aber nicht dieses Jahr. Da war er einfach nicht der beste. He did a GREAT JOB, but the whole package was not enough. Know what I mean?“

Wenn Kunst und Politik in einen Topf geworfen werden

In der Art geht es immer weiter. Ich muss jedes Mal staunen, wenn Menschen so extrem von ihren Ansichten überzeugt sind. Es ist inzwischen zwei Uhr und ich hab noch immer nicht kapiert, warum sich die Leute sowas in der Öffentlichkeit reinziehen müssen.

Von der Leinwand kreischt mich der Trailer zu „Greatest Showman“ an. Soviel zum Thema Künstler, denen es von der Gesellschaft schwer gemacht wird. Das Ganze kommt aber so dermaßen schwülstig daher, dass ich Sodbrennen kriege. Dieser Film ist bestimmt Hugh Jackman's Rache. Dafür, dass seine 17 Wolverine-Filme gefloppt sind. Trotzdem eine Nominierung für den besten Titelsong. Warum auch nicht?

Dann endlich die Eröffnungsrede. Es gefällt mir, wie Jimmy Kimmel das große Thema #metoo anspricht, ohne zu moralisieren. Und vor allem: Ohne seinen Humor einzubüßen. Nach so einem Highlight kommt bestimmt erstmal eine halbe Stunde Werbung, denk ich. Gehe deshalb aufs Klo. Und verpasse fast den ersten Oscar.

Denn plötzlich kommt Leben in die Bude. Die Leute in der Kneipe jubeln jedem einzelnen der nominierten Nebendarsteller zu. Als der Sieger verkündet wird, spaltet sich die Menge sofort in zwei Lager.

„Echt? Wow. Can't believe it.“

„Endlich! Das hab ich ihm schon so lange gegönnt!“

„What about Christopher Plummer? They should put a sign against Kevin Spacey!“

So geht das fortan bei allen prestigeträchtigen Kategorien. Den Akteuren wird zugejubelt wie bei einem Sportereignis. Die Leute streiten sich für ihre Favoriten. Erinnert mich ein bisschen an Poetry Slams. Vielleicht ist genau das auch der Reiz für die Zuschauer hier. Sie lieben es einfach, Künstler zu bewerten. Oder wenigstens dabei zuzuschauen, wie sie bewertet werden. Die schlechten ins Kröpfchen, die guten ins Töpfchen.

Die Leute lieben es, Künstler zu bewerten

Als ich um halb vier die Kneipe verlasse, hat niemand der Anwesenden ein zweites Getränk bestellt. Zuhause schau ich mir den Rest der Verleihung am Rechner an. Gott sei Dank holt der deutsche SFX-Mann tatsächlich eine Trophäe für uns. WIR SIND OSCAR. Die Kamerafrau wird nicht ausgezeichnet. Dafür aber Roger Deakins, der bei mir für The Big Lebowski auf ewig einen Stein im Brett hat.

Ich kann die Ami-Clique immer noch hören. Ob sie ihren Frieden damit schließen können, dass Gary Oldmann seinen Oscar dieses Jahr kriegt? Bestimmt drücken sie nochmal ein Auge zu. Dafür gewinnt ja auch Frances McDormand. Zum Glück. Ein Triumph für Feministen und Cineasten gleichermaßen. Alle lieben Frances.

Wirklich eine elend lange Veranstaltung. Ich bin mir sicher, dass es auch noch einen Oscar für die Kategorie „Bester Film“ gibt. Allerdings ist es inzwischen fast sechs Uhr und ich hab schon Zähne geputzt und liege im Bett. Irgendwann muss ich ja auch noch den Artikel schreiben. Ich hoffe, er wird nicht zu sarkastisch. Immerhin mag ich Hollywood. Und tolle Künstler sollen tolle Preise kriegen.

Mir geht nur dieses Public Viewing-Ding auf den Sack. Damit wird wirklich jedes Ereignis ad absurdum geführt. Aber die Leute müssen halt ihre Kulte feiern. Und sie finden es einfach am schönsten, Schauspieler und andere Künstler dort zu sehen, wo sie hingehören: In der Arena.

Zurück zur Startseite