Wie mein Vater in einem Aufzug stecken blieb – und keiner ihm half
Ich hab mich letzten Dienstag, wie fast jeden Dienstag, mit meinem Vater zum Mittag getroffen. Das Gespräch plänkelte so los, er erzählte mir, wie es Oma geht und dass das Gesundheitssystem die absolute Katastrophe sei, wenn es darum geht, alte Menschen zu unterstützen. Ich erzählte danach kurz von mir und fragte ihn dann, wie es ihm eigentlich so gehe. Ja, gut, wie immer halt, ach ja, „ich blieb letzte Woche im Aufzug stecken“.
„Aber es ist nichts weiter passiert?“, fragte ich eher beiläufig nach einem kurzen Staunen, weil ich dachte, die Geschichte hätte sich damit. „Ja ja“, meinte mein Papa etwas schroff, „aber das ist ja nur der Anfang der Geschichte.“ Denn als er zunächst den Notknopf drückte, musste er feststellen, dass der nicht etwa dazu da ist, einen Sicherheitsdienst zu alarmieren, sondern nur um im Haus mit einem Alarmsignal auf sich aufmerksam zu machen. Und da begann der ganze Spaß. Mein Papa wohnt in einem zehnstöckigen Wohnblock am Alexanderplatz, in dem ziemlich viele Menschen wohnen, einige schon seit Jahrzehnten.
Warum hilft niemand einem Mann, der im Fahrstuhl stecken geblieben ist?
Ich unterbrach ihn: „Du hattest dein Handy wieder nicht dabei, oder?“ „Doch, aber du hast in dem Fahrstuhl keinen Empfang.“ Also fing mein Vater an nach Hilfe zu rufen. Erst ein paar Minuten, dann zehn Minuten, dann 15 Minuten, dann eine halbe Stunde. Nicht, dass niemand vorbeigekommen wäre. Im Gegenteil: Im Haus herrschte reges Treiben und die Bewohner hörten meinen Vater auch. Das konnte er daran erkennen, dass sie lachten, irgendwas tuschelten und weiterliefen. Ich fühlte, wie mein Kopf rot wurde und meine Hände nass vor Wut. Wie kann man über einen 61-jährigen Mann lachen, dessen psychischer und physischer Zustand in diesem Moment unbekannt ist und der in einem Fahrstuhl feststeckt, in dem es keine Luftzufuhr gibt?
Nach einiger Zeit, vermutlich fühlte es sich wie eine Ewigkeit an, fragte endlich eine Frau aus dem Haus, ob mein Vater Hilfe bräuchte. „Ja, bitte rufen Sie die Feuerwehr an!“, sagte er. Ich wollte mir schon gar nicht mehr ausmalen, in welchem Zustand mein Vater in dem Moment war. Eineinhalb Stunden später konnte er wieder frische Luft atmen, nachdem der Notdienst des Fahrstuhlbetreibers informiert wurde und eintraf und die Feuerwehr den alten Fahrstuhl händisch hochgekurbelt und die Tür aufgestemmt hatte. Die Feuerwehr fragte noch, ob er ins Krankenhaus gebracht werden wollte, aber mein Vater wollte einfach nur an die frische Luft.
Ihr habt alle zu wenig Probleme, oder?
Ich bin immer noch fassungslos und sauer. Und den Leuten, die lieber Witze reißen, statt einem Menschen in Not zu helfen, kann ich nur sagen: Ihr habt alle zu wenig Probleme, oder? In Berlin kann man im Vergleich zu anderen Weltstädten sicher leben, das kulturelle und kulinarische Angebot hab ich so noch in keiner anderen Stadt auf der Welt erlebt und die meisten von euch haben ein Dach über dem Kopf. Klar, wir haben eine katastrophale Flughafensituation, eine Verkehrsgesellschaft, die ihre eigenen Unzulänglichkeiten lieber mit Witzen überspielt, anstatt etwas zu verbessern, und einen beschissenen Sommer hinter uns – aber das ist alles kein Grund, einen alten Mann im Fahrstuhl stecken zu lassen, oder?
Charlott Tornow