Wie ich in der S-Bahn daran erinnert wurde, dass der erste Eindruck täuschen kann
Als ich aus dem Fenster der S-Bahn nach draußen schaue, werden die Wolken über Berlin schon langsam wieder lila, wie es in dem Lied heißt. Da Wochenende ist, bringt die S-Bahn mich auch zu dieser Stunde noch zuverlässig nach Hause – genau genommen sogar wesentlich zuverlässiger als zur Rush Hour. Warum das, was tagsüber unmöglich erscheint, nachts problemlos läuft, habe ich nie ganz verstanden – in Berlin springen schließlich zu jeder Tages- und Nachtzeit genug Gestalten rum, die für eine "Störung im Betriebsablauf" sorgen könnten – aber ich will mich nicht beklagen. Hauptsache, ich komme nach Hause.
Um mich herum gammeln noch ein paar andere Schnapsleichen vor sich hin. Am anderen Ende des Wagons redet ein Typ, der ziemlich sicher auf Koks ist, pausenlos von seinem awesome Australien-Trip. Vereinzelt steigen auch Leute in Arbeitskluft ein und aus. Die meisten sehen grimmig drein. Würde ich wahrscheinlich auch, wenn ich am Sonntag zu nachtschlafender Zeit zur Arbeit müsste. Zwischen den Stationen döse ich immer wieder kurz weg. Das Rattern der S-Bahn und das gedämpfte Stimmgewirr sind mein Meeresrauschen.
Zwischen den Stationen döse ich immer wieder kurz weg. Das Rattern der S-Bahn und das Stimmgewirr sind mein Meeresrauschen.
Am Ostkreuz hüpfen zwei Jungs in die Bahn, die aussehen, als könnten sie einem YouTube-Video entsprungen sein – einem erfolgreichen mit zehntausenden Abonnenten und Werbe-Deals und so. Beide tragen tief ausgeschnittene Tanktops und Skinny Jeans, und beide haben das wuschlige blonde Haar mühevoll auf "nicht mühevoll" gestylt. Der Kleinere trägt einen goldenen Ohrstecker, der Größere ein quietsch-pinkes Basecap. Ich nenne sie Mr. Gold und Mr. Pink. Die zwei schnattern ununterbrochen, während sie es sich in einem leeren Viererabteil bequem machen. Offensichtlich sind sie von ihrer Partynacht wesentlich weniger zerstört als ich von meiner. Die Stimmen der YouTube-Jungs fügen sich nahtlos in die Geräuschkulisse ein. Ich lehne meinen Kopf an die Fensterscheibe und beginne wieder ein wenig zu dösen.
An der Landsberger Allee steigt ein Typ mit Sonnenbankbräune und Boxerschnitt zu, der wahrscheinlich unterwegs zum Pumpen ist oder gerade vom Pumpen kommt. Die Muskeln, die sich unter dem eng anliegenden weißen T-Shirt abzeichnen, sehen jedenfalls ziemlich aufgepumpt aus. Die dicke Goldkette um seinen Hals erinnert mich an den Höhlentroll, den ich neulich in der U7 getroffen habe.
Am Ostkreuz hüpfen zwei Jungs in die Bahn, die aussehen, als könnten sie einem YouTube-Video entsprungen sein.
Mr. White, wie ich den Neuzugang taufe, stapft durch den Mittelgang des Zuges wie ein Gorilla durch den Urwald. Nur Mr. Gold und Mr. Pink bremsen ihn kurz aus. Sie selbst bemerken gar nichts davon, aber ich sehe, wie Mr. White kurz stockt, als er an ihnen vorbei geht. Er wirft ihnen noch einen Blick über die Schulter zu, ehe er sich mir gegenüber auf der anderen Seite des Ganges in die Sitzpolster fallen lässt.
Während Mr. Gold und Mr. Pink weiterreden – gerade geht es um einen Typen, den Mr. Gold nicht von der Bettkante schubsen würde – zückt Mr. White ein abgegriffenes Handy und beginnt zu spielen. Lange kann das Smartphone seine Aufmerksamkeit allerdings nicht halten. Immer wieder schaut er hoch, zu den beiden YouTube-Jungs hinüber. Schließlich wandert das Handy zurück in die Hosentasche. Jetzt starrt Mr. White unverhohlen. Mit angestrengter Miene lauscht er, während Mr. Gold und Mr. Pink sich über die Highlights der Nacht austauschen. Seine fleischigen Finger trippeln nervös auf seinem Oberschenkel.
An der Landsberger Allee steigt ein Typ mit Sonnenbankbräune und Boxerschnitt zu, der wahrscheinlich unterwegs zum Pumpen ist oder gerade vom Pumpen kommt.
Wedding. Die YouTube-Jungs verabschieden sich lautstark voneinander. Mr. Gold springt auf den Bahnsteig hinaus, während Mr. Pink allein im Viererabteil zurück bleibt und sich seinem iPhone zuwendet. Auf der anderen Seite des Ganges lässt Mr. White die Fingerknöchel knacken. Dann erhebt er sich. Langsam aber zielstrebig setzt er sich in Bewegung, den Blick weiterhin stur auf Mr. Pink gerichtet.
Plötzlich bin ich hellwach. Ich schaue mich im Zug um. Die meisten Fahrgäste sind offenbar noch fertiger als ich und bekommen nicht mit, was sich da anbahnt. Ich schaue mich nach der nächsten Notbremse um und frage mich im gleichen Moment, ob es wirklich die beste Idee wäre, den Zug zwischen zwei Bahnhöfen anzuhalten, falls hier gleich was passiert.
Während ich noch überlege, hat Mr. White sein Ziel schon erreicht. Zu voller Größe aufgebaut steht er neben Mr. Pink, der neben ihm wie ein Grundschüler aussieht. Mr. Pink schaut auf. Mr. White stemmt die Hände in die Hüften. „Hey“, sagt er. Pause. „Hey“, gibt Mr. Pink zögerlich zurück. Mr. White tritt noch einen Schritt näher an ihn heran. Ich stehe langsam auf.
'Sorry, Mann, ich bin voll schlecht bei sowas, aber ich find' dich voll sweet so.'
„Sorry, Mann, ich bin voll schlecht bei sowas, aber ich find' dich voll sweet so“, murmelt Mr. White. Ich bleibe stehen, als wäre ich gegen eine Glasscheibe gelaufen. „Oh. Cool.“ Mr. Pink klingt mindestens so überrascht wie ich es bin. Aber er gestattet Mr. White, sich zu ihm zu setzen. Schon nach Sekunden sind die beiden in ein inniges Gespräch vertieft.
Ich setze mich wieder. Der zarte Flirt von Mr. White und Mr. Pink passt ziemlich gut in die Geräuschkulisse, stelle ich fest. Innerhalb von Sekunden bin ich wieder weggedöst.