Support your local dealer – Sind wir am Ladensterben selbst Schuld?

Die normale Nachrichtenlage in der Redaktion eines Berliner Stadtmagazins sieht ungefähr so aus: "In Kreuzberg öffnet ein neuer veganer Burgerladen", "Irgendwas mit Radwegen", "Irgendwas mit Flughäfen", "In Neukölln öffnet ein neuer Möbelladen", "In Charlottenburg schließt ein 150 Jahre altes Gasthaus". Wie im echten Leben liegen Geburt und Tod auch im Einzelhandel ziemlich nach beieinander – ein Laden kommt, ein Laden geht. Nur, dass die Läden heute nicht mehr Läden heißen, sondern mindestens Shop, Store oder Atelier. Und dass die Läden, die zumachen, meistens auf eine lange Tradition zurückblicken, wie die 125 Jahre alte Kneipe Wilhelm Hoeck 1892 in Charlottenburg, die nun schließt.

Oft ergreift uns da die Wehmut, selbst dann, wenn man nie selbst ein Bier am geschichtsträchtigen Holztresen getrunken hat. Und immer ist da auch ein Hauch schlechtes Gewissen: Ist unsere Generation am Ladensterben verantwortlich?

Was beim Verschwinden kleiner Läden schmerzt, ist ihre Bedeutung für das soziokulturelle Klima

Dass der Einzelhandel stirbt, ist keine große Neuigkeit. Ähnlich wie Print-Medien und Festnetztelefone wird er mehr und mehr verdrängt durch die Errungenschaften des digitalen Zeitalters. Wir können vom 6-Mann-Zelt bis zum Bio-Joghurt alles im Internet bestellen und uns bis vor die eigene Haustür liefern lassen. Nicht nur materielle Güter, auch Dienstleistungen bis hin zu Sex. Im Grunde müssten wir schon heute kaum noch physisch einen Laden betreten, um alle Bedürfnisse des Alltags zu befriedigen.

Macht es in dem oft komplexen Gewirr aus Gründen für eine Schließung überhaupt Sinn, nach einem Schuldigen zu suchen?

Was beim Verschwinden kleiner, unabhängiger Läden wirklich schmerzt, ist ihre Bedeutung für das soziokulturelle Klima im Kiez. Das Eckcafé, der Bäcker oder die Fleischerei; es sind meist Geschäfte mit Produkten für den täglichen Bedarf, in denen sich Nachbarn, Anwohner, Alteingesessene und Neuzugezogene begegnen. Mal stundenlang tratschen, sich mal nur mit einem Kopfnicken grüßen, aber sich dabei eben immer sehen – wer verpackt eigentlich unsere Online-Supermarktbestellung? Keine Ahnung. Fortschreitende Anonymität und Automatisierung sorgen dafür, dass das soziale Klima kühler wird. Zumindest an Stellen, an denen wir es bisher nicht gewohnt sind.

Wir wollen, dass die "alte Ordnung" bestehen bleibt

Es macht natürlich einen gewaltigen Unterschied, aus welchen Gründen ein Traditionsgeschäft schließt. Fehlt einfach die Kundschaft, weil im Jahre 2017 wirklich niemand mehr Kurzwaren und Stoffe auf zwei Etagen braucht? Möchte der oder die LadenbesitzerIn nach 40 Jahren hinterm Tresen einfach den Ruhestand genießen? Oder hat ein ausländischer Investor seine Finger im Spiel und riecht in der Immobilie das große Geld? Hinter jeder Geschäftsaufgabe steht mindestens ein Mensch, dessen finanzielle Zukunft nun möglicherweise von einem Tag auf den anderen auf gläsernen Füßen steht. Liegt es in unserer Verantwortung als Konsumenten, den unabhängigen Einzelhandel zu retten? Und macht es in dem oft komplexen Gewirr aus Gründen für eine Schließung überhaupt Sinn, nach einem Schuldigen zu suchen?

Wir gehen wegen unserer Glutenintoleranz nicht mehr zum Bäcker, aber wenn das Filou verschwinden soll, sind wir mitbetroffen. Ja, was denn jetzt?

Unsere Generation ist in vielerlei Hinsicht eine zwiegespaltene. Wir kennen noch die gemischte Tüte vom Kiosk und bestellen an faulen Tagen Süßkram trotzdem online. Für uns funktioniert beides, aber wenn wir dann plötzlich feststellen, dass die Bar, die immer da vorne im Eckhaus war, plötzlich zugemacht hat, weil der Hauseigentümer jetzt einen Concept-Store für handgefertigte Designerbrillen einziehen lassen möchte, dann fühlt sich das dennoch schal an. Wir waren nie in dieser Bar, aber wir wollen, dass die "alte Ordnung" bestehen bleibt. Wir gehen wegen unserer Glutenintoleranz nicht mehr zum Bäcker, aber wenn das Filou verschwinden soll, sind wir mitbetroffen. Ja, was denn jetzt?

Wir empfinden Einkaufsnostalgie

Es wäre einfach, zu sagen: Na, dann lasst uns eben alle wieder mehr offline einkaufen! Support your local dealer! Eine Maßnahme, die sicherlich kurzfristig etwas bewirken könnte. Wir hängen an der Institution "Laden", auch wenn unser Alltag mittlerweile ohne funktioniert. Die realistische Perspektive ist aber, dass sich das Rad der Zeit auch in der Einkaufskultur und -landschaft weiterdrehen und sich unserer schnell verändernden Welt anpasst. Wir empfinden dennoch Einkaufsnostalgie. Einziges Gegenmittel: dort einzukaufen, wo man sich wohl fühlt und ein gutes Gewissen dabei hat. Sich zu fragen, wen man mit seinem Geld unterstützen will: Amazon oder Fleischermeister Herbert? Und sich bei einem neuen "Dauerhaft geschlossen"-Schild an die Worte des berühmten zeitgenössischen Philosophen Dynamite Delxue zu trösten: "Alles bleibt anders."

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