Warum will keiner mehr ein normaler Tourist sein?

© Hella Wittenberg

In ihrer Kolumne "Fragen an das seltsame Leben" stellt Autorin Ilona Fragen zu den großen, aber vor allem zu den kleinen, unscheinbaren Rätseln des Alltags. In dieser Episode fragt sie sich, warum eigentlich niemand mehr ein richtiger Touri sein will.

Neulich war ich im Urlaub. So richtig. In Italien natürlich, dolce vita muss man dort erleben, wo es entsteht. Weil wir uns nicht zwischen Wasser, Bergen und Palmen entscheiden können, fahren wir an den Comer See, denn dort gibt es alles gleichzeitig. Das Airbnb liegt auf einem Hügel mit Blick über den See, ringsum nur Wohnhäuser, Palmen, duftende Jasminbüsche, rostige Fiat 500 und kläffende Hunde, vor denen überall mit gelben Schildern ("Attenti al cane") gewarnt wird. Wir fühlen uns direkt wohl. Die Vermieterin spricht zwar Deutsch, aber noch sind wir guter Dinge, dass wir hier authentisch italienischen Urlaub machen können, ohne dabei die trotteligen deutschen Touristen mit Adiletten und Sonnenbrand zu sein.

Der Anspruch als privilegierter Millenial in der ganzen Welt Zuhause sein zu wollen

Zuerst wollen wir natürlich etwas Abendessen, denn von den zwölf Hotdogs an den verschiedenen Autobahnraststätten wird ja keiner satt. Wir spazieren durch den Ort, von dem wir feststellen, dass er bei GoogleMaps irgendwie größer gewirkt hatte. Es gibt eine Hauptstraße, an der sich vier identisch aussehende Restaurants befinden, die in unterschiedlicher Reihenfolge die selben Gerichte auf eine Tafel vor dem Eingang gemalt haben. Auf Deutsch und Englisch. Ich schlucke. Zum ersten Mal kommt mir der Gedanke, dass es schwierig werden könnte, Tourist zu sein, aber nicht wie einer behandelt zu werden. Wir betreten irgendeins der Lokale und ich bestelle in gebrochenem Italienisch etwas zu trinken. "Möchten Sie auch etwas essen?", fragt der Kellner auf Deutsch. Er rollt Tischsets aus Papier vor uns aus und legt Besteck in Papierhüllen daneben. In einem Brotkorb liegen einzeln verpackte Knabberstangen mit der Aufschrift "Nach original italienischer Rezeptur". Immerhin.

Mir ist schlecht, ich bin pleite, alles ist schrecklich. Ich lege mich zum Sterben an den Strand.

Am nächsten Tag keine Besserung in Sicht: Wir tingeln durch die Ortschaften und suchen die italienische Lebensfreude, wie sie uns in der Miracoli-Werbung der 90er Jahre versprochen wurde. Die handgerollte Pasta, den duftenden Kaffee und wilde Zitronenbäume, das goldene Olivenöl, blauer Himmel, roter Wein, Zypressen, Zikaden, Eros Ramazotti. Ich probiere mich verzweifelt durch Panini, Gelato, Cappuccino und Calzone, nichts schmeckt wirklich gut, überall Besteck in Papiertüten und Preise, bei denen mir Berlin-Mitte so günstig wie ein Lagerverkauf in einem Industriegebiet vorkommt. Wir verlaufen uns, müssen fragen, man spricht Englisch, aber wir finden den Weg trotzdem nicht, ich bekomme Blasen an den Füßen, mir ist schlecht, ich bin pleite, alles ist schrecklich. Ich lege mich zum Sterben an den Strand.

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Irgendwie muss ich eingeschlafen sein, denn als ich auferstehe, ist mein Rücken krebsrot. Durch die Blasen an den Fersen sind Adiletten die einzigen Schuhe, die ich noch tragen kann. Es ist besiegelt. Ich bin auf hunderte Meter als dämliche Touristin zu erkennen. Wie ärgerlich! Ich wollte doch auf Instagram angeben mit den kleinen, lauschigen Ecken, die ich entdecke und dem wahnsinnig guten, handgemachten Essen, das man "so nur in Italien bekommt". Wollte mich ein bisschen anders und neu fühlen und ein wenig so werden wie die Leute im Ort – gut gelaunt, entspannt und ständig ein bisschen betrunken.

Das "live like a local"-Prinzip nichts anderes, als für Marketingzwecke romantisierter Sozialchauvinismus.

Wobei, so richtig leben wie ein Einheimischer in dieser Region will ich dann doch nicht. Das würde ja bedeuten, während der Hauptsaison für 900 Euro netto mir Tag für Tag die Füße in der Gastronomie wund zu laufen, mit den Gästen gleichbleibend klischeehaft zu scherzen, wie es im Touristenführer steht und dann weit nach Mitternacht mit einer altersschwachen Vespa in meinen Bungalow am Ortsrand zu knattern, wo mich jeden Abend der Wachhund des Nachbarn fast auffrisst. Attenti al cane! Denn wenn man mal ehrlich ist, ist das "live like a local"-Prinzip nichts anderes als für Marketingzwecke romantisierter Sozialchauvinismus. Man will sich abheben – nicht unbedingt von den Einheimischen, die tun einem ja sogar ein bisschen Leid, sondern vor allem von den anderen, dummen Touristen, die zu faul zum Googeln waren und jetzt miese Pizza für 18 Euro essen, wo es doch nur 80 Kilometer weiter einen Slow-Food-Ziegenbauern gibt, der für das gleiche Geld einen ganzen Käse verkauft.

Urlaub vom Individualismus

Ich beschließe, noch während ich mir die letzten Steinchen vom Strand aus der Armbeuge pule, dass ich keine Lust mehr habe, Teil dieser elitären Bewegung zu sein. Ich bin jetzt Touristin. Offiziell. Mit Adiletten und Sonnenbrand und brüchigem Italienisch, ohne Orientierung, ohne Sprachkenntnisse, ohne große Ansprüche. Wir spielen Minigolf, kaufen alberne Hüte und freuen uns über jedes "Ah, from Berlino! Che bello!". Und siehe da: Es fühlt sich an wie richtiger Urlaub. So, wie er früher war, mit allem, was dazugehörte, bevor man als privilegierter Millenial in der ganzen Welt zu Hause sein musste. Es ist unfassbar entspannend, sich nicht auszukennen, einfach irgendwo irgendwas zu essen, ein bisschen zu viel dafür zu bezahlen, aber sich nicht darüber aufzuregen, weil es nebenan auch nicht günstiger gewesen wäre. Sich nicht mehr um sein Outfit zu scheren, genauso wenig wie um die Tatsache, dass eine Million Menschen schon genau an derselben Stelle dasselbe Foto gemacht und ihren Müttern geschickt haben.

Wir spielen Minigolf, kaufen alberne Hüte und freuen uns über jedes "Ah, from Berlino! Che bello!". Und siehe da: Es fühlt sich an wie richtiger Urlaub.

Es ist Urlaub vom Individualismus. Und damit das Erholsamste, was mir hätte passieren können. Zusammen mit einer Gruppe Amerikanerinnen flaniere ich durch eine pittoreske Gartenanlage (Eintritt 15 Euro) und als eine von ihnen "Oh my god, this is so beautiful!" ruft, stelle ich fest, dass ich das auch finde. Ohne Meta-Zynismus und Nörgelironie. Wer hätte das gedacht. Che bello!

Bevor wir abreisen, starte ich aber noch einen letzten Versuch, regionale italienische Souvenirs aufzutreiben. In einem kleinen Laden in einer der wenigen Seitenstraßen finde ich Zitronen aus der Region und ein hübsch bemaltes Geschirrtuch. Ich bin zufrieden und kann mit dem guten Gewissen abreisen. Als ich wenige Tage später in der Küche einer Freundin dasselbe Geschirrtuch entdecke, bin ich entzückt. "Sag, warst du etwa auch in diesem kleinen Laden am Comer See?", frage ich. "Nein", sagt sie, "das hab ich bei Real am S-Bahnhof Neukölln gekauft".

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