Warum vermissen in Berlin alle das Meer?

© Hella Wittenberg

In ihrer Kolumne "Fragen an das seltsame Leben" stellt Autorin Ilona Fragen zu den großen, aber vor allem zu den kleinen, unscheinbaren Rätseln des Alltags. Und weil man als erwachsener Mensch alles selber machen muss, liefert sie die Antworten gleich mit.

Die Brandung rauscht in meinen Ohren. Das Wasser flutet heran, kitzelt mich erst an den Zehen, läuft dann über meine Fußrücken, steigt bis zum Knöchel. Dann fließt es wieder zurück und nimmt unter meinen Füßen kitzelnd ein wenig Sand mit sich. Nach jeder Welle sinke ich tiefer. Mit einem Schmatzen ziehe ich meine Füße aus dem schweren, kalten Sand und gehe zurück zu meinem Handtuch. Ich drehe mich noch einmal um. Am Horizont kann ich durch die tief hängenden Wolken gerade noch den Fernsehturm erkennen. Wie gut, dass Berlin am Meer liegt.

So oder so ähnlich könnte sich das anfühlen, wenn Berlin wirklich am Meer läge. Viele wünschen sich das sehr und wenn sie gefragt werden, was sie in Berlin vermissen, sagen sie mit Salzwasser in den Augen: „Das Meer!“. Ich vermisse in Berlin auch ziemlich viel. Einen Radweg auf der Torstraße zum Beispiel. Pret-a-Manger. Freien Eintritt in Museen. Aber das Meer? Das hat mir noch nie gefehlt und ich verstehe auch nicht, wieso Berlin dadurch besser, schöner oder lebenswerter werden sollte, als es gerade ist.

Auch Berlin würde von einer Lage am Meer profitieren. Also, theoretisch. Wenn erstmal der neue Hafen eröffnet hätte.

Klar, Städte am Meer haben immer etwas Weltläufiges. Die Menschen dort sind offener, kosmopolitischer und einfach ein wenig aufregender als in Binnenmetropolen. Auch Berlin würde von einer Lage am Meer profitieren. Also, theoretisch. Wenn erstmal der neue Hafen eröffnet hätte. Die Baustelle würde jedes Jahr einige Millionen verschlingen und sollte längst fertig sein, aber wie immer in dieser Stadt sind alle optimistisch, dass hier bald die ersten großen Frachtschiffe und Kreuzfahrtdampfer anlegen werden. Immerhin wäre das neue Opernhaus schon eingeweiht. Es sähe der Elbphilharmonie in Hamburg zum Verwechseln ähnlich, wäre aber durch die Verwendung ausschließlich gebrauchter Baumaterialien wesentlich günstiger – vintage, sozusagen. Typisch Berlin eben!

Ein Tag am Berliner Strand

Meer wäre natürlich auch toll für Kinder. Sie könnten dann im offenen Wasser schwimmen lernen. Das ist nicht besser als im Schwimmbad oder Baggersee, aber es klingt so romantisch. Außerdem würden sie auch gleich durch die erste Nahtoderfahrung abgehärtet, denn an den überfüllten Stränden muss man schon mal ein paar Minuten unter Wasser aushalten können, wenn grade ein paar Teens in aufblasbaren Donuts und ein Team Wasserballer um den letzten freien Zentimeter im Wasser kämpfen. Wenn ich Kinder hätte, würde ich sie, sobald sie „Offshore-Energiegewinnung“ sagen können, an den Berliner Strand bringen. Das sähe dann ungefähr so aus:

Ilona (feierlich): Schau, mein Kind! Das alles wird niemals dir gehören. Haha.

Das Kind reagiert nicht.

Ilona: Also, Spaß beiseite. Das da ist Meer. (deutet mit dem Finger) Das ist Sand, da ist eine Muschel, da oben fliegt eine Möwe. Und hier war mal ein Cornetto Buttermilch-Zitrone drin. Das ist ein Zigarettenstummel, nicht anfassen. Nicht anfassen hab ich gesagt!

Das Kind fasst Zigarettenstummel an.

Ilona: Da hinten stehen Windräder. In dem Häuschen da drüben wohnt der Bademeister. Da vorne ist der Badesteg. Das da ist Hunde-Aa, das ist pfui. Nein, auch nicht anfassen. Nein, auch nicht in den Mund nehmen.

Das Kind nimmt Hundekot aus dem Mund.

Ilona (hastig): Komm, wir, äh, kaufen Pommes!

Mehrstündiges Anstehen für Pommes.

Ilona: Bisschen voll hier. Das dauert ja länger als Rewe an der Kasse kurz nach 18 Uhr. Vielleicht gehen wir lieber zum Eis, hm?

Mehrstündiges Anstehen für Eis.

Ilona: Na gut, also theoretisch gibt es hier Eis, Eis kennst du ja sowieso schon. Gehen wir lieber nochmal ans Wasser. Das ist ohnehin das wichtigste.

Ilona und das Kind stehen am Ufer.

Ilona: Hinten am Horizont kannst du schon Brandenburg sehen. Da wohnen die wilden Kerle, das weißt du ja. Ui, und da kommt ein großes Schiff! Der hat bestimmt Gold und Diamanten an Bord! Ah nein, es sind holländische Touristen.

Das Kind schläft erschöpft ein.

Ilona: He, nicht einpennen! Ich bringe dir gerade bei, das Meer zu lieben! Andere Kinder wären froh, wenn sie in einer Stadt am Meer aufwachsen dürften. Außerdem sind wir nicht oft hier. Ist ja doch immer ziemlich anstrengend, bis man mal da ist und seine Strandmuschel aufgebaut hat und so. (zu sich selbst) Ich weiß ehrlich gesagt gar nicht mehr, wann ich zuletzt hier war. Man will immer jedes Wochenende an die See fahren und am Ende bleibt man doch wieder im eigenen Kiez. (wieder zum schlafenden Kind) Egal, Meer ist wichtig, prinzipiell. Hörst du? Allein schon als romantische Vorstellung. Und auch sonst, ich meine, stell dir mal Berlin ohne Meer vor. Kaum Tourismus. Keine Erholungsmöglichkeiten. Nur langweiliges Essen ohne Fisch und Krabben. Das wär doch nix. Da könnten wir ja gleich nach München ziehen! Irgendwann wirst du es schon noch zu schätzen wissen, das Berliner Meer. Und jetzt komm, wir müssen zurück. In der Stadt ist wieder Fischmarkt auf dem Alex und du magst doch Räucheraal so gerne.

Ilona trägt das Kind zurück zur Bushaltestelle, wo gerade der Bus abfährt.

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