Verliebtsein verträgt keinen Aufschub - So fühlt es sich an, zum falschen Zeitpunkt verliebt zu sein

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Es ist eine dieser wunderhübschen Kopfsteinpflasterstraßen mitten in Berlin. So eine mit schnörkeligen Häuserfassaden und alten Kastanien, deren Wipfel über die Straße ragen und mit orangefarbenen Straßenlaternen. Kleine Cafés und schmucke Lädchen säumen die Allee, sodass selbige selbst im Regen märchenhaft anmutet. Es ist Spätsommer und ich jobbe in einer kleinen Boutique. Die Hitze drückt sich zwischen die Häuser, obwohl die Dämmerung schon hereinbricht. Ich lehne im Türrahmen und beobachte das Treiben auf der Straße. Du schlenderst auf mich zu und betrittst die Schwelle. Es ist Verliebtsein auf den ersten Blick.

Wiedersehen am Valentinstag

Es wird Winter und wir verlieren uns aus den Augen. Nicht aus dem Sinn. Am Valentinstag begegnen wir uns wieder. Mir ist der Tag egal. So wie dir. Aber heute ist die Freude über das Wiedersehen so groß, dass wir beginnen, uns zu schreiben. Wenn du mal jemanden brauchst, um über die Welt zu reden oder jemanden, der dir Socken strickt, dann sag es mir. Das hast du geschrieben. Und ich habe gelacht. Weil ich in diesem Moment verstanden habe, dass auch du verliebt bist.

Wenn du mal jemanden brauchst, um über die Welt zu reden oder jemanden, der dir Socken strickt, dann sag es mir.

Kurz darauf sitzen wir zum ersten Mal beieinander und reden, einen ganzen Tag lang. Über das was wir tun, über das, was wir gut finden, über Menschen, Glaubensvorstellungen und natürlich über Liebe. Du sagst, du hältst nichts vom Heiraten. Ich eigentlich auch nicht. Aber in diesem Moment denke ich, dass ich dich vom Gegenteil überzeugen will. Sehr kitschig, ich weiß.

Das erste gemeinsame Bier. Ich halte mich an meinem Glas fest, das auf dem Tisch steht. Und du tust das Gleiche. Haut auf Haut. Blitzt es. Noch kann man es als Zufall deuten, aber eigentlich doch nicht mehr. So unterhalten wir uns, als sei es selbstverständlich, dass Hände sich beim Unterhalten berühren. Ich habe schon immer diese seltsame Sehnsucht in mir, kennst du das? Das fragst du mich. Ja, natürlich kenn ich das, sage ich.

So unterhalten wir uns, als sei es selbstverständlich, dass Hände sich beim Unterhalten berühren.

Ich betanze dich. Du bespielst meine Gedanken. Wir brauchen uns, um im Feuer zu stehen. Wir wollen uns berühren, weil es uns in Flammen setzt. Weil wir uns inspirieren, tun wir alles mit Funken in den Augen. Bevor die Nacht einbricht, suchen wir die Verbindung zueinander. Um ein Netz aus uns zu spinnen rund um die Welt und um das, was geschieht. Einfärben in dich und mich wollen wir es. Denn wenn die Welt aus den Fugen gerät, dann verorte ich mich zu dir, dann tue ich so, als wäre die Antwort auf alle Dinge, zu wissen, dass es dich gibt. Dass du nicht weit bist. Das tröstet mich. Ich will nicht mehr, als zu wissen, dass auch du dich zu mir verortest.

Endlich im Morgenrot gestehen wir uns das und halten uns an den Händen. Kein bisschen zufällig. Lassen wir das Feuer durch uns rauschen. Berauscht sehen wir uns an. Doch es gibt noch etwas, das wir uns gestehen. Wir leben beide in anderen Beziehungen und wissen nicht, ob wir dieses alte Leben, dieses Zuhause aufgeben können, um etwas Neues zu schaffen.

Schau mich nicht so verliebt an, sage ich und gehe auf dich zu.

Trotzdem kommt jener Tag. Es ist alles perfekt an jenem Tag. Dieses Video geht viral. In dem Fremde sich zum ersten Mal küssen. Du hast es mir geschickt. Oder ich dir. Egal. Wir wissen, wir wollen das auch. Und wir können es besser. Natürlich. Ich suche dich auf und weiß noch genau, wie du da stehst, auf der anderen Seite des Raumes an die Wand gelehnt und mich ansiehst. Immerzu. Schau mich nicht so verliebt an, sage ich und gehe auf dich zu. Ich weiß noch genau, wie wir uns umarmten, es zuließen, über uns herfielen nur in dieser Umarmung, uns aneinanderdrückten, so fest, ich glaube wir wollten in den anderen hineinstürzen.

In diesem Moment ist da eine neue Welt. Eine, die man nicht allein erschaffen kann. Immer wieder kehren wir in diese Welt zurück. Tragen etwas von ihr mit uns herum, wie einen Filter, der sich über alles legt und in alles dringt: Am Morgen, wenn ich beim Bahnfahren aus dem Fenster schaue, leuchten dann die Wolken und die Gleise, und die Winde klingen leise, wenn ich durch die Dämmerung laufe, bis die Nacht hereinbricht, und mit ihr die Dunkelheit sich wie Musik um mich schmiegt.

Angst vorm Fliegen

Immer wieder kosten wir von dieser Magie, um dann doch wieder abzutauchen in die Flut des Alltags. Denn wir haben keinen Mut. Wir schieben auf. Weil wir Angst haben, unser altes Leben zu verlassen und uns in den Rausch zu stürzen. Wir haben Angst vorm Fliegen. Wir fordern Zeit. Zum Nachdenken. Zum Abwägen. Zum Sichergehen. Doch Gefühle bieten selten Sicherheit. Und ehe wir uns versehen, ist so viel Zeit verstrichen, dass es zu spät ist.

Verliebtsein verträgt keinen Aufschub. Denn wenn der Moment vorüber ist, vermag ihn keiner je wiederzubringen.

Mein Blick fällt auf ein altes Cover des Zeit Magazins auf dem Boden: Liebe verträgt keinen Aufschub, steht da drauf. Ich bin mir da nicht sicher. Aber was ich jetzt weiß, ist: Verliebtsein verträgt keinen Aufschub. Denn wenn der Moment vorüber ist, vermag ihn keiner je wiederzubringen. Weil es zu einem späteren Zeitpunkt anders ist. Weil kein Moment dem anderen gleicht. Und kein Gefühl. Weil Gefühle sich wandeln, angefüllt werden mit Worten und Deutungen, die sie nicht verkraften, weil sie darin ihre Authentizität verlieren.

Ich erinnere mich, wie wir uns verabschiedeten, da im Sonnenuntergang auf der Brücke über den Bahngleisen. Uns eigentlich nicht verabschieden wollten, du deine Hand in meinem Gesicht, ich mich in deinem Gesicht verlierend. Was tue ich, wenn ich dich vermisse? Das habe ich dich gefragt. Schreib es auf und gib es mir irgendwann, hast du gesagt.

Das habe ich getan. Ich musste alles niederschreiben. Und auch wenn es jetzt zu spät sein mag: Hier sind meine Zeilen nur für dich.

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