"Mein Kiez, mein Café, mein Geheimnis" – Warum wir mit unseren Empfehlungen eure Geheimtipps (nicht) ruinieren

© Nora Tabel

Wir müssen über Max reden. Max heißt vielleicht auch Lukas oder Katharina oder Joe. Jedenfalls liest Max sehr gerne und regelmäßig Mit Vergnügen. Er mag die Veranstaltungstipps, stöbert nach Unternehmungen für's Wochenende und liest dann gerne hier und da noch ein paar kleine Artikel. Eine Sache aber mag Max überhaupt nicht: wenn ein Ort, der bisher noch vergleichsweise unbekannt ist, empfohlen wird. Sein Lieblingscafé zum Beispiel. Das ist ein echter Geheimtipp. Nur er, die Betreiber und wenige andere Gäste wissen überhaupt, dass es das Café gibt. Noch. Denn kürzlich fand er diesen heiligen, geschützten Ort als Tipp auf Mit Vergnügen wieder.

Ein schlimmer Moment für Max. Sein schüchternes, behütetes Kleinod wird ins Rampenlicht gezerrt und bestimmt bald vor lauter neugierigen Gästen nur so bersten. Er schreibt gleich mal einen Kommentar auf Facebook, um seinem Ärger Luft zu machen. "Na toll!!! Vielen Dank!! Das Café WAR mal ein echter Geheimtipp, aber jetzt, wo ihr es empfohlen habt, ist es ja wohl vorbei damit! IHR SEID DIE SPEERSPITZE DER GENTRITIFIZERUNG!!!". Zwanzig Likes bekommt sein Kommentar. Von Leuten, die das Café auch kennen und als Geheimtipp schätzen.

Geheimtipps sind kostbare Biotope, die unter Schutz gestellt werden müssen.

Vielleicht auch von jenen, die es gut finden, dass es endlich mal einer ausspricht: Geheimtipps sind kein Allgemeingut! Sie sind geheim und müssen es bleiben, ein kostbares Biotop, das unter Schutz steht. Der größte Fressfeind: Seiten wie Mit Vergnügen oder andere Stadtmagazine, die tagtäglich auf der Suche nach noch unverbrauchtem Material für Empfehlungen sind und ohne Rücksicht auf die Hüter des geheimen Schatzes wie Max einfach Dinge empfehlen, die gut sind. Dreist und ignorant ist das. Denn wo soll Max jetzt bitte Kaffee trinken? Nach dem der Tipp erst einmal in den Weiten des Netzes veröffentlicht wurde, kann es sich nur noch um Stunden handeln, bis die ersten Horden in Bussen vor seinem Kiezcafé halten und ihm dort den Platz in der Sonne wegschnappen werden.

Statt normalerweise 200 Gästen sind es plötzlich 2000. Pro Stunde!

Vorbei werden die Zeiten sein, in denen Max ungestört bei Buch und Kuchen oder mit seinem Laptop an seinem kleinen Ecktisch sitzen und in Ruhe lesen, arbeiten oder entspannen konnte. Überall werden fremde Gesichter sein. Sie werden wie die Heuschrecken das Café leeressen und -trinken. Der völlig überforderte Barista wird nach 3Wochen seinen Beruf an den Nagel hängen. Diagnose: Burn-Out. Übermüdet, überarbeitet, völlig fertig, viel zu viele Kunden. Die Besitzer des Cafés werden schon einen Tag nach Veröffentlichung des Tipps an die Grenzen ihrer Vorräte kommen. Statt normalerweise 200 Gästen sind es plötzlich 2000. Pro Stunde! Neue Lieferanten müssen gefunden werden, mehr Personal, nervlich belastbare Baristi und so weiter. Das kostet Geld – aber glücklicherweise spült der Besucheransturm ordentlich Kohle in die Kassen.

Vielleicht sollten wir aufhören, uns besitzergreifend wie bockige Kleinkinder zu verhalten.

Max ist untröstlich. Der ganze Charme, all das Understatement – dahin, dahin, es wird unwiederbringlich vorbei sein. Er wird jeden Morgen eine Stunde vor Ladenöffnung vor dem Geheimtipp von einst stehen müssen und sich mit einem großen Handtuch seinen Platz reservieren müssen. Die Invasion wird kommen, ganz bestimmt! Nicht, dass er handfeste Beweise hätte. Nicht, dass er von ähnlichen Fällen gehört hätte.

Vielleicht findet aber all das nur in Max' Kopf statt. Vielleicht profitieren mehr Menschen von Empfehlungen, als andere darunter "leiden", wenn plötzlich zwei Personen mehr am Nebentisch im Restaurant sitzen. Vielleicht ist der Gedanke, dass durch die Empfehlung eines einzelnen Magazins plötzlich Horden von Menschen zur selben Zeit jahrelang an denselben Ort stürmen, ein klein wenig unrealistisch. Vielleicht sollten wir aufhören, uns besitzergreifend wie bockige Kleinkinder zu verhalten. Vielleicht ist diese Stadt, entgegen aller Gerüchte, doch groß genug für alle. Und der nächste Geheimtipp eröffnet bestimmt schon bald auch in Max' Nachbarschaft.

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