Köfte, Bier & Bengalos – Unterwegs am 1. Mai in Kreuzberg
Krawalle in Kreuzberg? War da mal was? Ich bin schon vor fünf Jahren in Flip Flops hinter dem Schwarzen Block her flaniert, so behütet hab ich mich da gefühlt. Okay, am Ende hab ich mich doch verletzt. Aber nur, weil ich volltrunken in ein paar Glasscherben gefallen bin.
Trotzdem liegt dieses Jahr was in der Luft. Ich war erst neulich in Kreuzberg, weil Gentrifizierungsgegner das Restaurant Vertikal mit Eispickeln angegriffen haben. Die Route der revolutionären 1.-Mai-Demo führt ganz in der Nähe vorbei. Und auch an anderen „Gentrifizierungshotspots“, wie ich gelesen habe. Dazu kommt, dass die 18-Uhr-Demo, bei der es früher traditionell zu Ausschreitungen gekommen ist, dieses Jahr gar nicht angemeldet ist. Muss die Polizei dann nicht einschreiten? Wenn tausende Demonstranten ohne Genehmigung vom Oranienplatz auf das ohnehin überfüllte MyFest drängen? Und was dann?
MyFest versus revolutionärer Maidemonstration
Als Sensationsreporter mach ich mich am Nachmittag auf den Weg ins Getümmel. Der U-Bahnhof Kottbusser Tor ist gesperrt. Die Bahn fährt einfach durch, wie zu Mauerzeiten in Mitte. Ich steige also Moritzplatz aus und geh die paar Schritte zum MyFest in der Oranienstraße.
Es ist voll. Mehr als zwei Meter pro Minute komm ich nicht vorwärts. Vor so gut wie jedem Laden wird Bier aus Flaschen in Plastikbecher umgefüllt. Die Stimmung ist entsprechend heiter. Plötzlich Rauchschwaden vor mir. Eine brennende Barrikade? Nein, die Jungs am Köfte-Grill haben nur Kohle nachgeschüttet.
Es liegt jetzt schon ein wenig Spannung in der Luft, wie das in solchen Momenten wohl üblich ist. Vielleicht liegt's auch an meiner Erwartungshaltung.
Ich biege ab auf die Adalbertstraße, dränge mich durch bis zum Kotti. Das Zentrum des Platzes ist abgesperrt. Einige Polizeiwannen stehen herum. In den Blumenkübeln liegen die ersten Besoffenen. Ursprünglich sollte die Demoroute hier vorbei führen. Das wurde jedoch kurzfristig verboten und die Abschlusskundgebung mitten auf die Kottbusser Straße verlegt.
Ich stelle mir vor, dass die Demonstranten versuchen könnten, trotzdem durchzubrechen, um sich einen Weg zum Oranienplatz zu bahnen. Die Polizei scheint allerdings nicht damit zu rechnen. Keine Wasserwerfer, nicht mal besonders viele Beamte.
Es ist jetzt vier Uhr. Am Lausitzer Platz startet gerade die Demo. Ich gehe ihr entgegen, am Kanal entlang. Die Straßen sind für Autos gesperrt. Es liegt jetzt schon ein wenig Spannung in der Luft, wie das in solchen Momenten wohl üblich ist. Vielleicht liegt's auch an meiner Erwartungshaltung.
Auf der Fahrbahn der Ohlauer Straße geht eine Gruppe von drei Männern. Kapuzenpullis, Halstücher. Als ein Rettungswagen sie im Schritttempo überholen will, drosseln sie ihr Tempo, statt ihn vorbei zu lassen. Passiver Widerstand gegen die Staatsgewalt? Der Fahrer überholt sie schließlich mit einem ziemlich knappen Manöver, woraufhin die drei empört aufschreien.
Plötzlich Rauchschwaden vor mir. Eine brennende Barrikade? Nein, die Jungs am Köfte-Grill haben nur Kohle nachgeschüttet.
Am Spreewaldplatz treffe ich auf die Demo. Ich sehe viel rot. Ich sehe Hammer und Sichel. Danach ein Block mit etlichen Palästina-Fahnen. Ein Transparent: „Antizionismus ist nicht Antisemitismus“. Mhm. Die Demonstranten intonieren eine beliebte Parole: „Leute, lasst das Glotzen sein, reiht euch in die Demo ein.“ Ich bleib erstmal, wo ich bin. Abseits der Transparente sind auch hier Hunderte von Leuten unterwegs, die offensichtlich vom Straßenfest kommen und einfach mit spazieren.
Als der Protestzug auf die Kottbusser Straße einbiegt, geh ich voraus, bis ich an der Stelle bin, wo die Abschlusskundgebung stattfinden soll. Ein paar Dutzend Polizisten bilden gerade lose Ketten. Sie haben zwar Helme dabei, setzen sie aber nicht auf. Viele von ihnen scheinen erst Anfang zwanzig zu sein, sehen gut aus, wirken relativ locker. Ob das alles Bestandteil der Deeskalationstaktik ist?
Antifa-Späher und Zivibullen belauern sich gegenseitig
Augenblicklich finden sich ein paar der obligatorischen Vögel ein, die sich immer neben einen Polizisten stellen müssen, um ihn gnadenlos voll zu labern. Die Presse-Fotografen suchen hastig nach guten Perspektiven. Im Hintergrund schleichen Antifa-Späher und Zivibullen herum und belauern sich gegenseitig. Als die Demo fast da ist, gerät dem Einsatzleiter irgendwas ins Auge. Er reibt hektisch dran rum, während seine Kollegen in die andere Richtung grinsen.
Und dann passiert: Nichts. Die Initiativen bringen ihre Redebeiträge. Ich erfahre, dass der Staat Israel gegen jede Art von universeller Gerechtigkeit steht. Schön, was man auf einer linken Demo noch alles lernen kann. Als alle Redner gesprochen haben, drehen die Demonstranten brav um und zerstreuen sich.
Viele der Polizisten scheinen erst Anfang 20 zu sein, sehen gut aus, wirken relativ locker. Ob das alles Bestandteil der Deeskalationstaktik ist?
Ich gehe Richtung Oranienplatz. Dort soll in Kürze die echte, die unangemeldete, eben revolutionäre Demonstration stattfinden. In den Seitenstraßen treffe ich auf einzelne Autonome im typischen Fahrradkurier-Outfit: Enge Nylonhosen, darüber kurze Hosen mit vollgestopften Seitentaschen. Sie telefonieren, blicken dabei konzentriert in die Ferne, laufen hektisch herum.
Das erinnert mich an früher, als ich selbst noch als Krawalltourist durch Deutschland gefahren bin. Klar war es uns wichtig, Naziaufmärsche zu stoppen. Da war natürlich sowas wie Idealismus. Aber selbst mit 17 fand ich es schon affig, wie unfassbar ernst sich diese Antifa-Typen nehmen. Und vor allem: Wenn ihr Kampf so wichtig ist, so notwendig, warum lassen sie sich dann von ein paar Polizisten mit Gummiknüppeln aufhalten? In anderen Ländern sterben Menschen für ihre Überzeugungen.
Krawalle in Kreuzberg. War da mal was?
Auf dem Oranienplatz versammeln sich nach und nach ein paar tausend Leute. Gegen 18.45 Uhr ziehen sie wieder los, über das MyFest. Die Polizei lässt sie gewähren. Natürlich kommt es an den engen Stellen zu Rangeleien. Wie ich höre, wurde irgendwann sogar ein EINKAUFSWAGEN geworfen. Revolution!
Okay, Schluss mit dem Sarkasmus. Ist ja schön, dass dieser Tag inzwischen so friedlich abläuft. Ich vermute zwar, dass es noch immer etliche Gründe gibt, wegen derer man auf die Straße gehen kann. Aber vielleicht ist SO36 nicht mehr der richtige Ort dafür. Vielleicht wird der 1. Mai hier wieder endgültig zu dem, was er vor 1987 war: ein harmloses Volksfest.
Vielleicht wird der 1. Mai wieder endgültig zu dem, was er vor 1987 war: ein harmloses Volksfest.
Clint Lukas