Freiheit, digitale Identitäten und Liebe: Dafür brauchen wir heute Philosophie!

© Christian Uhle

Christian Uhle ist ein 29-jähriger Philosoph aus Berlin und berät die ARTE-Sendung Streetphilosophy. Ich habe ihn bei Holunderblütenwunder und Bier mit Fragen traktiert: Warum kann unsere digitale Identität bei Facebook uns gefährlich werden? Warum sollten wir nicht böse zu Robotern sein? Und was zur Hölle ist jetzt eigentlich Liebe?

Johanna: Was genau machst du als Philosoph bei Streetphilosophy?
Christian: Ich mache Themenvorschläge für die Sendung und dann erarbeiten wir diese gemeinsam im Team. Streetphilosophy will auch für die Generation Y einer großen Frage nachgehen: Wie soll ich leben? Jede Folge greift einen bestimmten Lebensbereich oder ein Gefühl auf, wie Liebe oder Freiheit, und beleuchtet mit ganz unterschiedlichen Menschen verschiedene Facetten des Themas. Damit wollen wir Antwort-Möglichkeiten aufzeigen und somit auch Orientierungsmöglichkeiten an die Hand geben. Insofern soll natürlich auch die Philosophie aus der Uni herausgeholt und für ein breiteres Publikum interessant gemacht werden.

Du hast mit Ronja von Rönne in einer Folge, die am 9.12 ausgestrahlt wird, über das Thema Identität gesprochen – was bedeutet denn Identität?
Wir alle versuchen, eine bestimmte Rolle in der Welt, beziehungsweise in einer Geschichte zu spielen. Eine gelungene Herausbildung von Identität bedeutet, eine verständliche Rolle in einem verständlichen Kontext zu finden. Identität ist dabei immer sozial und intersubjektiv – also etwas, das sich zwischen Menschen herausbildet. Wenn ich das Gefühl habe, dass es eben kein Miteinander ist, bei dem ich mitreden kann, sondern ich eher fremdbestimmt bin, dann kann ich in eine Identitätskrise stürzen. Das kann auch passieren, wenn man in eine Rolle hineingedrängt wird – zum Beispiel, wenn man homosexuell oder intersexuell ist und sich nicht outen darf.

Wie verändert sich unsere Identität durch die Digitalisierung?
In dem Moment, in dem sich meine Umgebung ändert, ändert sich auch meine Identität, weil ich mich zu einer anderen Umgebung in Beziehung setze. Zusätzlich zum analogen Raum wird nun auch ein digitaler Raum kreiert, in dem man eine zweite Identität aufbaut – und sei es nur in einem geringen Maß. Zum Beispiel versuchen wir in Spielen wie World of Warcraft oder sozialen Netzwerken ein Bild von uns zu generieren und anderen mitzuteilen. Das kann gefährlich sein.

Wenn wir unsere digitale Identität nicht in unsere analoge integrieren können, wird das problematisch. Und auch, wenn wir uns mehr darum kümmern, eine oberflächliche Fassadenidentität zu pflegen, um darüber ein Gefühl von Anerkennung zu bekommen.

Was genau ist daran gefährlich?
Wenn wir unsere digitale Identität nicht in unsere analoge integrieren können, wird das problematisch. Und auch, wenn wir uns mehr darum kümmern, eine oberflächliche Fassadenidentität zu pflegen, um darüber ein Gefühl von Anerkennung zu bekommen. Außerdem fungiert das Internet wie ein geteilter Raum – denn das, was zum Beispiel Facebook in der Timeline zeigt, ist bestimmt durch die berühmte Filter-Bubble. So hat irgendwann jeder sein eigenes Internet und der Kontakt mit Anderem oder Neuem wird reduziert. Somit muss ich mich nicht mehr an Dingen abarbeiten, die mir nicht gefallen – weil mir diese nicht mehr angezeigt werden. Meine Identität kann dadurch gewissermaßen geglättet werden.

Was macht die Digitalisierung mit sozialen Beziehungen?
Es wird zum Beispiel an Apps gearbeitet, mit denen man die Gefühle des Gegenübers erfassen kann. Wenn man bei einem Date im Café sitzt, könnte man also direkt herausfinden, wie der andere einen so findet. So versuchen wir, alles transparent und berechenbar zu machen. Dadurch verbannen wir aber das Mystische aus unserem Leben. Es entsteht die Gefahr einer Entfremdung, weil wir bei all der Kalkulierung das intuitive Gefühl für den Anderen verlieren.

Was sagt denn die Philosophie zu Robotern?
Der Umgang mit Robotern wirft viele ethische Probleme auf. Diskutiert wird zum Beispiel die Frage, welche Verpflichtungen wir Robotern gegenüber haben. Die Frage ist aber eher, was macht das mit uns, wenn wir einen menschenähnlichen Roboter aus Aggression heraus quälen? Auch die Frage, ob Gewaltspiele die Gewaltbereitschaft erhöhen, wird ja immer wieder diskutiert.

Manche argumentieren, dass es besser sei, die Aggressionen in einem Spiel auszuleben als in der Realität.
Durch Virtual Reality oder zukünftig auch Roboter werden sich die Erfahrungen beim Ausleben von Aggressionen immer echter anfühlen. Eindrücke in der Virtuellen Realität gehen viel weiter als bei klassischen Computerspielen. Indem ich meine dunklen Gelüste in diesen Welten auslebe, kann ich mir aber selbst schaden, weil ich in mir selbst das Schlechte zum Tragen bringe. In der Serie Westworld ist dieses Prinzip ja gut dargestellt.

Eindrücke in der Virtuellen Realität gehen viel weiter als bei klassischen Computerspielen. Indem ich meine dunklen Gelüste in diesen Welten auslebe, kann ich mir aber selbst schaden, weil ich in mir selbst das Schlechte zum Tragen bringe.

Der Generation Y fällt es scheinbar oft schwer, Entscheidungen zu treffen und mit ihren vielen Möglichkeiten umzugehen. Wann wird Freiheit zur Überforderung?
Wenn wir extrem viele Optionen für uns selbst sehen. Wir leben im Grunde unter dem Imperativ: Entfalte dich selbst und mach das Beste aus allen Optionen. Wir setzen uns dann unter Druck, die allerbeste Entscheidung treffen. Die gibt es aber nicht. Besser wäre es, den Druck runterzuschrauben und zu versuchen, eine lediglich gute Entscheidung zu treffen. Und sich im Nachhinein nicht immer wieder zu fragen, ob es jetzt das Beste war, was man getan hat.

Warum haben wir denn so Angst davor, nicht die beste Entscheidung zu treffen?
Aus Freiheit resultiert Verantwortung und daraus resultiert Angst, etwas Falsches zu tun oder zu scheitern. Das stellt zum Beispiel Sartre sehr gut dar. Dieser Zwang, die bestmögliche Entscheidung zu treffen, setzt uns so sehr unter Druck, dass wir Selbstverwirklichung manchmal gar nicht mehr als Geschenk sehen, sondern als Belastung. Das kann innere Erschöpfung auslösen. Ich glaube, dass es für uns wichtig ist, mit unserer Freiheit spielerischer umzugehen.

Dieser Zwang, die bestmögliche Entscheidung zu treffen, setzt uns so sehr unter Druck, dass wir Selbstverwirklichung manchmal gar nicht mehr als Geschenk sehen, sondern als Belastung.

Auch in Beziehungen kommt unsere Angst vor Entscheidungen zum Ausdruck. Angeblich sind wir ja die Generation Beziehungsunfähig. Wie siehst du das?
Ich glaube, dass diese Diagnose zumindest im Wesentlichen falsch ist. Unsere Beziehungen sind zwar kurzlebiger als früher – das muss aber keine Beziehungsunfähigkeit bedeuten. In unserer Großelterngeneration waren die Menschen viel länger zusammen, zum Teil 40 Jahre. Aber nur weil Menschen Jahrzehnte zusammenblieben, heißt das ja nicht, dass die Beziehungen besser waren. Häufig ist man zusammengeblieben, obwohl es nicht harmonisch war. Heute sind wir eher bereit, die Reißleine zu ziehen, wenn wir erkennen, dass eine Beziehung nicht funktioniert. Das kann auch ein Zeichen von Beziehungsfähigkeit sein.

Aber heißt das nicht auch, dass man nicht mehr bereit ist zu kämpfen und immer eine vermeintlich bessere Partie sucht?
Ja, es ist ein verbreitetes Problem, nicht mehr die Fähigkeit zu besitzen, sich auf etwas einzulassen und Reibung in Kauf zu nehmen oder zu kämpfen. Ich denke, das hängt mit dem Problem der Entscheidungen zusammen, über das wir vorher gesprochen haben. Wir haben Angst, uns festzulegen, weil darin unsere Verantwortung zum Ausdruck kommt. Sicherlich schwingt dabei auch mit, dass Beziehungen durch die Digitalisierung noch stärker von einer Marktlogik durchsetzt werden. Im digitalen Raum ist die Optionsvielfalt viel präsenter als zum Beispiel früher auf dem Dorffest. Auch hier setzen wir uns dann schnell wieder unter Druck, eine beste statt einer guten Entscheidung zu treffen und halten uns deshalb alles offen. So treffen wir dann manchmal gar keine Entscheidung.

Nur weil Menschen Jahrzehnte zusammenblieben, heißt das ja nicht, dass die Beziehungen besser waren.

Was ist denn überhaupt Liebe in deinen Augen?
Liebe bedeutet Anziehung – aber sie ist mehr als nur ein Gefühl. Liebe ist verbunden mit Überzeugungen, Wünschen und Handlungen. Liebe ist eine Haltung und ein Tätigsein, wie Erich Fromm es ja auch schön in der Kunst des Liebens beschreibt. Liebe passiert nicht einfach, sie bricht nicht über uns herein, sondern sie ist etwas, was unser Dazutun erfordert. In der Liebe wollen wir eine Person in ihrer Vollständigkeit erfassen – aber ein Mensch ist niemals vollständig erfahrbar, sondern immer nur teilweise und in Situationen. Genau das macht auch das mystische Element der Liebe aus.

Ich glaube aber auch, dass man Liebe oder Verliebtsein gar nicht so präzise versuchen sollte zu beschreiben. Schon Aristoteles sagte, dass sich gutes Philosophieren dadurch auszeichnet, in der Analyse nur so genau zu werden, wie es der Gegenstand auch zulässt. Verliebtsein kann man zwar versuchen präzise zu beschreiben. Aber ich glaube, dann hat man nicht so viel vom Verliebtsein verstanden.

Christian Uhle ist Philosoph und arbeitet als Berater für die ARTE-Sendung Streetphilosophy und als Wissenschaftler am Institut für ökologische Wirtschaftsforschung.

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