"Irgendwann ist es zu spät" – Ein Brief an mein 20-jähriges Ich

© Martin Hofmann

Mit 20 sagen wir uns gern beruhigende Dinge wie: Probier dich in Ruhe aus, du hast unendlich viel Zeit, es gibt keine falschen Entscheidungen, irgendwo wartet die große Liebe, am Ende hat alles einen Sinn. Jetzt bin ich fast 30 und sage: Ich habe falsche Entscheidungen getroffen und vieles war komplett sinnfrei. Ich hätte meine Zeit manchmal besser nutzen und vieles mehr auskosten können. Klar: Das alles wusste ich auch schon mit 20, aber ich habe es nicht gefühlt. Deshalb mache ich jetzt eine kleine Zeitreise und schreibe an mein 20-jähriges Ich.

Liebe Johanna,

ich seh dich auf deinem kleinen Balkon stehen. Barfuß auf der Schwelle zwischen den Flügeltüren, weil der Sommerregen aus den Wolken in die flimmernde Hitze stürzt. So schaust du dem Gewittersturm über Berlin zu. Neben dem Fernsehturm am Alex blitzt es. Donner grollen vom blutroten Abendhimmel. In der einen Hand ein Bier, in der anderen eine Kippe. Aus deinem Zimmer schwappen Klänge von Led Zep ins Gewitter. Du hast grade Adorno gelesen (klar, was sonst) und jetzt wartest du auf Besuch, in Tagträumen versunken. Gerade erst bist du nach Berlin gezogen, hast angefangen zu studieren und musstest verzweifelt an deiner ersten großen Liebe scheitern. Und jetzt hast du dich neu verliebt, in einen Philosophen, der Liebe für eine totalitäre Illusion hält. Mit ihm wirst du gleich die Nacht verbringen und ihr werdet zum nächsten Morgen sagen: Verweile doch, Du bist so schön. Ach Johanna, Ich finde dich toll. Und bezaubernd. Und schrecklich naiv.

Meine Eltern waren mit 30 wirklich erwachsen

Noch heute vermag ich genau Deine Gefühle von damals zu spüren. Und die Magie. Gleichzeitig kann ich vieles absolut nicht mehr nachvollziehen, mich nicht mehr ganz hineinversetzen in die 20-Jährige, in ihre Entscheidungen und Gedanken. Weil sie mir nah und gleichzeitig fremd sind. Das ist das Verrückte: Es ist ein bisschen so, als spräche man mit einer anderen Person. Und ja: Ich gehöre jetzt zu den Menschen, die Du für schrecklich erwachsen hältst. Mit 20 denkt man, wenn man erstmal 30 ist, dann ist man richtig gesettelt. Schließlich haben meine Eltern das auch so vorgemacht: Ich kann mich noch genau an ihren 30. Geburtstag erinnern: Da war ich schon sechs Jahre alt, habe meine ersten Lackschühchen bekommen und sie stolz präsentiert bei der riesigen Feier mit lauter verdammt erwachsenen Leuten. So eine bin ich jetzt. Nicht.

Mit Ende 20 haben die gleichen Dinge plötzlich andere Auswirkungen

Auch wenn das super-krasse Erwachsensein mit Kind und Kegel ruhig noch warten darf, kann ich Dir eines schon mal mit voller Gewissheit sagen: Mit Ende 20 haben alle Dinge des Lebens urplötzlich ein anderes Gewicht. Es geschieht beinahe schleichend und eines Tages steht man morgens auf und stellt fest: Alle Entscheidungen haben jetzt eine ganz andere Auswirkung als noch mit Anfang 20. Man kann nicht mehr so lapidar beschließen, in welche Stadt man als nächstes zieht oder ob man doch nochmal einen neuen Master macht. All diese Dinge ziehen jetzt viel konkretere Konsequenzen nach sich als vorher: In der Stadt, für die ich mich entscheide, treffe ich vielleicht Menschen, mit denen ich eine Familie gründen möchte. Mit dem Job, für den ich mich entscheide, beeinflusse ich spätere Kontakte und Bewerbungen, die erneutes Umschwenken schwierig machen. Spätestens mit 30 stellt man also die Weichen für die Zeit, in der man sich niederlässt. Deshalb: Probier dich jetzt ohne schlechtes Gewissen aus. Denn der Satz „Es ist nie zu spät, um sich zu verändern oder etwas Neues zu tun“ ist nur teilweise wahr. Er gehört zu den Imperativen des Lebens, die uns Mut machen sollen, aber nicht mit der ganzen Wahrheit rausrücken. Denn irgendwann kann es sehr wohl zu spät sein. True story.

Nicht nur treiben lassen, sondern Pläne schmieden!

Deshalb könntest du dir ruhig ein bisschen öfter bewusstmachen, dass alles, was du jetzt tust, dein Leben beeinflusst. Versuch doch mal, bewusste Entscheidungen zu treffen und konkrete Pläne zu schmieden. Aber nein, Du folgst lieber deinem Herzen und findest das auch noch großartig. Denn Du bist so eine gnadenlose Romantikerin (gelinde gesagt), dass Du alles andere hintenanstellst: Dein Freund lebt in Berlin, also ziehst du nach dem Abi ohne Ziel – geschweige denn Job – in die große Stadt. Wenn Du doch nur schon wüsstest, dass man nie, wirklich niemals, mit zarten 20 die Liebe als Grundlage für eine Lebensentscheidung nehmen sollte. Doch leider gab es La La Land damals noch nicht und so guckst du statt Ryan Gosling eben Lolle in Berlin Berlin dabei zu, wie sie durch die Stadt jagt.

Du läufst zur goldenen Stunde über die leuchtende Brücke an der Eberswalde Straße und verliebst Dich in den Prenzlauer Berg. Du spazierst Amelié lauschend durch die Kastanienallee und findest ein Café, in dem man Yann Tiersen spielt und eine Kellnerin sucht. Also servierst du Kaffee und überlegst, was man in Berlin so Nettes studieren könnte. Du lässt dich treiben, statt mal wirklich ernsthaft zu überlegen, wo du hinwillst und was man dafür tun muss. Klar: Schon als kleines Kind hast Du vor der Schreibmaschine gesessen und Geschichten geschrieben und denkst nun: Irgendwie wird sich das mit dem Schreiben schon richten.

Halte nicht an Deiner Liebe fest!

Auch die Liebe erfordert bewusste Entscheidungen. Wirklich. Denn es gibt sie, diese Dinge des Lebens, die man unsagbar liebt und trotzdem nicht leben kann. Das können Menschen sein, mit denen man am Alltag scheitert. Das können aber auch Orte sein oder Gewohnheiten. Man kann nicht für alles, was man liebt, kämpfen. Sonst geht man zugrunde. Man muss auch loslassen können. Doch du verliebst dich über alle Maße und denkst, das bedeutet den Himmel auf Erden. (Zugegeben: Das ist auch immer noch so). Du glaubst so sehr an die eine große Liebe und die Wahrheit der Gefühle, dass du dich lange nicht traust, Dich von Deiner ersten großen Liebe zu trennen und wirklich zu lösen, obwohl die Beziehung schwierig ist. Trau dich! Halte nicht aus Angst an Dingen fest, die sich nicht halten lassen. Das tut scheiße weh, aber es ist am Ende nicht schlimm. Denn nur, weil man eine Liebe im Alltag nicht leben kann, heißt das nicht, dass diese Liebe stirbt. Und: Es kommen immer wieder großartige Menschen und Lieben. Lass los und spring!

Nur weil sich etwas nicht gut anfühlt, heißt es nicht, dass man es nicht tun sollte

Klar: Jede Veränderung erfordert Mut. Aber sie bringt auch Angst mit sich. Unweigerlich. Es ist schlicht die Wesenseigenschaft einer Veränderung, dafür mit Angst zu bezahlen. Deshalb muss sich eine Veränderung auch nicht sofort gut anfühlen. Du traust dich gerade nicht, empfindest recht wenig Vorfreude und fragst dich eher, ob du eigentlich verrückt sein musst, die schöne Komfortzone zu verlassen? Ich sag dir, die meisten Menschen, die von Veränderungen berichten, als wären das Peanuts, die lügen. Die hatten genauso die Hosen voll. Ebenso wie man bei einer Trennung Sorge hat, allein zu sein, fürchtet man sich davor, in eine neue Stadt zu ziehen oder den Job zu wechseln. Die Frage ist immer nur: Ist das die ganzen Sorgen wert? Ja! Weil die Angst von Stolz abgelöst wird.

Lass den Master sein!

Ein kleiner Blick in Deine Zukunft: Du wirst nach Deinem Bachelor unentschlossen sein, ob Du noch einen Master anhängen solltest. Und weil Du Dich nicht entscheiden kannst, wirst Du einfach das Gleiche weiterstudieren, obwohl es Dich nicht so richtig glücklich macht. Schau doch lieber mal nach links und rechts! Oder geh erst mal Arbeiten und schieb die Entscheidung auf! Denn es gibt sehr wohl falsche Entscheidungen.

Nur noch eine Handvoll Sommerregen

Wie beende ich diesen Brief nun am besten? Vielleicht mit diesem einen Lebensgefühl, das Dich gerade umtreibt: Du fühlst dich unsterblich. Es ist so, als könne man für immer durch Nächte tanzen, barfuß auf Kopfsteinpflasterstraßen im Wind der Dämmerung. Für immer Kaffeezimtduft am Morgen schnuppern oder erste Küsse schmecken, im Sommerregen nackt umschlungen den Gewittern lauschen und kühle Biere öffnen. Doch Du hast im besten Fall noch eine Handvoll Verliebtheiten, ein paar Dutzend Sommer und nur wenige Schlittenfahrten zwischen Nächten unter klarem Sternenhimmel. Du wirst noch ein paar Mal an gebrochenem Herzen zerreißende Gedichte schreiben und mit Zweifel, Unsicherheit und klopfendem Herzen in die abenteurige Zukunft gucken. Genieß all das. So gut es geht, jeden Tag.

Und ich tu das jetzt auch. Denn in der Ferne beginnt es gerade leise zu donnern und ich muss zum Balkon. Um die Flügeltüren weit zu öffnen.

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