Diagnose Hochnormal: Bin ich unsensibel, weil mir Farben, Lärm und Menschen nichts ausmachen?

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Vor Kurzem hat Autorin Anna Maria Schwarzenberg in ihrem Artikel von ihrer Hochsensibilität erzählt. Davon, wie es ist, wenn die Sinneswahrnehmung feiner ist als bei anderen Menschen und davon, wie sie lernen musste, mit den intensiven Eindrücken, Gefühlen und Gedanken umzugehen. Hochsensibilität ist in den letzten Jahren immer mehr in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt, es gibt unzählige Online-Tests, Blogs, Artikel und Ratgeberseiten dazu.

Aus Neugierde habe 6 Tests gemacht, die mir verraten sollen, ob auch ich hochsensibel bin. 4 davon stufen mich als hochsensibel ein, einer ist sich nicht ganz sicher und laut einem anderen bin ich eher nicht hochsensibel. Mir selbst fällt meine Kategorisierung auch nicht ganz leicht. Einerseits habe ich schon Cafés verlassen, weil es mir dort zu sehr nach warmer Vollmilch roch, andererseits habe ich keine Schwierigkeiten damit, auf einem 50-minütigen Flug mit mehreren weinenden Kindern an Bord ein 49-minütiges Nickerchen zu machen. Nach all der Lektüre über Hochsensibilität will ich mir gar nicht ausmalen, was passiert, wenn man Hochsensible ohne Vorwarnung in einen Desigual-Shop schubst.

Oberflächliche Suggestivfragen mit absehbarem Ergebnis

Allerdings fallen mir bei den Tests einige Dinge auf. Die Fragen setzen sensorische Sensibilität ("Reagieren Sie empfindlich auf Geräusche oder Gerüche?") mit einem Sinn für Kunst und Ästhetik gleich ("Reagieren Sie stark auf Kunstwerke oder Musik?"), andere wiederum fragen Sozialverhalten ab ("Fühlen Sie sich in größeren Gruppen schnell überfordert?") oder könnten genauso gut aus einem Test für Introvertiertheit stammen ("Sind Sie häufig gern alleine?").  Zusätzlich werden noch die Begriffe Hochbegabung und ADHS in den Topf geworfen, sodass sogar untersensible Teilnehmer am Ende der Auswertung mindestens verwirrt zurückbleiben dürften.

Außerdem sind die reichlich oberflächlichen Fragen häufig suggestiv gestellt. Ob ich empfindlich auf grelles Licht reagiere? Klar, das ist ein natürlicher Schutzreflex der Augen. Und wer würde die Frage, ob er oder sie über ein "reiches, buntes Innenleben" verfüge, verneinen? "Nein, ich bin vom Wesen her eher plump und langweilig" behauptet wohl eher niemand freiwillig von sich. Ich vermute, auch angesichts meiner eigenen Testergebnisse, dass anhand dieser Fragemethoden sehr viel mehr Menschen als hochsensibel eingestuft würden als die bisher angenommenen 15 bis 20 Prozent der Bevölkerung. Dass Hochsensible als besonders wertvoll und begabt dargestellt werden, die nur lernen müssen, mit ihren "außergewöhnlichen Talenten" leben zu lernen, haben alle Tests gemein. Wer mehr darüber wissen möchte, findet Rat in Büchern mit Titeln wie "Die Berufung für Hochsensible: Die Gratwanderung zwischen Genialität und Zusammenbruch" oder "Ich spüre was, was du nicht spürst: Wie Hochsensible ihre Kraftquellen entdecken".

Zeit für einen neuen Club: Die Hochnormalen

Ich will an dieser Stelle gar nicht argumentieren, ob es das Phänomen Hochsensibilität tatsächlich gibt oder ob es "richtig" oder "falsch" ist, sich damit zu identifizieren. Wer sich mit dem Begriff gut beschrieben fühlt und seine Lebensqualität durch mehr Achtsamkeit und Selbstreflexion verbessern konnte – wunderbar.

Vielmehr mache ich mir Sorgen um eine scheinbar immer kleiner werdende Bevölkerungsgruppe: die Normalen. Solche, die Lärm, bunte Farben, Gluten, Laktose, viele Menschen, Wurstbudengerüche oder Zugluft ohne größere Schäden überstehen. Wer will heute schon noch normal sein, wenn das nur bedeutet, weniger Aufmerksamkeit, weniger respektvollen Umgang und qualitativ nur durchschnittliches Essen zu bekommen? Normalität sieht neben Hochsensibilität geradezu eindimensional, lethargisch, unkreativ, gleichförmig und unattraktiv aus. Nichts, woraus sich identitätsstiftende Interessen oder Fähigkeiten ableiten ließen. Die aber braucht es heutzutage, um im Wettbewerb – sei es um Jobs oder soziale Anerkennung – zu bestehen. Mit Reizüberflutung gut klarzukommen ist vielleicht ein evolutionärer Vorteil, gesellschaftlich allerdings ist man damit derzeit so interessant wie Maggi Fix für Butterbrot.

Vielleicht gibt es dann schon bald eine weiteren Club: die Hochnormalen. Jeder bringt zum Treffen der Selbsthilfegruppe ein schreiendes Kind, einen Döner und Klamotten von Desigual mit und dann wird eine Stunde lang in einem schlecht gelüfteten Raum im kaltweißen Licht von Leuchtstoffröhren durcheinandergeredet. Für wen das verlockend klingt, dem empfehle eine werktags eine Runde mit der Ringbahn zwischen 17 und 19 Uhr.

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