Unterwegs mit der Patin vom Dong Xuang Center: Lebensmittelkontrolleurin Frau Leymann

© Clint Lukas

Endlich darf ich ins Dong Xuan Center! Seit Jahren hab ich es nicht in Berlins größten Vietnamesenmarkt geschafft. Vor kurzem dann die Schreckensnachricht vom Großbrand. Doch es scheint noch zu stehen. In einem kleinen Kiosk vor dem Center lädt Frau Leymann mich auf einen Pott Kaffee ein. Sie lebt seit 1962 in Lichtenberg und macht einen patenten Eindruck. Liegt vielleicht daran, dass sie schon seit 38 Jahren Supermärkte und Restaurants kontrolliert.

„Wann haben Sie heute angefangen?“, frag ich.
„Um halb sechs. Und das, obwohl ich am Wochenende das Deutsch-Russische Fest abgedeckt habe.“
Mit 21 war ihre Ausbildung zum Hygiene-Inspektor abgeschlossen. Nach der Wende wurde sie dann vom Bezirksamt übernommen und heißt seither Lebensmittel-Kontrolleurin.
„Noch irgendwelche Fragen zum Dong Xuan Center, bevor wir reingehen?“
„Naja“, sag ich. „Hat’s da nicht neulich gebrannt?“
Frau Leymann schüttelt den Kopf. „Das war in einer Halle neben dem Center. Allerdings haben da einige Leute ihre Waren gelagert. Ein Händler hat Reis und Whisky für 400.000 Euro verloren. Zum Glück ist er versichert und kriegt einen Teil erstattet. Bei dem Pakistani, dem die Halle gehört, muss das erst noch geprüft werden.“
„Also weiß man nicht mal, ob er Schadensersatz leisten kann?“
„Falls nicht, kann er sich jedenfalls die Kugel geben.“
Wir steuern einen der vier großen Eingänge des Centers an. Frau Leymann macht eine ausholende Geste: „Das war hier früher alles Fabrik. VEB Elektrokohle. Ich bin nicht weit von hier zur Schule gegangen. Ab der achten Klasse mussten wir einmal im Monat zum Arbeitseinsatz hier antanzen. Kohlestifte schneiden. Und Griffe für Viehtransportkisten schleifen. 2006 hat dann die Dong Xuan GmbH übernommen. Und ich bin seitdem für die Hygiene verantwortlich.“
Ich folge ihr in einen riesigen Asia-Markt, wo wir gleich das Büro des Leiters aufsuchen. „Guten Morgen, Herr Wong“, sagt sie. „Ich habe heute einen Reporter dabei. Der macht ein Porträt über mich.“

Wenn es kein Schadensersatz gibt, kann er sich die Kugel geben.

Herr Wong nickt freundlich und wirkt trotzdem ein wenig angespannt. Ich muss an meine Zeit als Koch und Marktverkäufer denken. Und wie es war, wenn die Hygiene kam.

„Über die Jahre hat sich hier sehr viel verbessert“, sagt Frau Leymann, während sie das Mindesthaltbarkeitsdatum auf einigen Currypasten studiert. „Wir arbeiten gut zusammen. Hier gibt es ganz frisches Gemüse. Wird dreimal pro Woche aus Tschechien geliefert. Die Sprossen kommen aus Brandenburg. Der Tofu aus Berlin.“
Sie zeigt mir die Packungen. Etliche Sorten aus Hohenschönhausen. Der Bio-Tofu aus Marzahn. Wir gehen weiter, checken die Reinigungslisten im Backstage, die Temperaturkontrollen an den Kühlräumen.
„Sehen Sie“, sagt sie. „Hier wurde gestern nicht kontrolliert.“
„Oder einfach nicht abgezeichnet.“ Wieder denk ich an meine Gastro-Zeit und wie ich alle paar Wochen die Listen für den ganzen Monat ausgefüllt habe. Wir betreten das Fleischlager. Kisten mit Schweinebäuchen, Eisbein, Rippchen. Alles aus Deutschland.

„Hier ist immer alles sehr sauber“, sagt Frau Leymann zufrieden.
„Gibt’s hier keine Spezialitäten?“
„Doch, da muss ich manchmal auch einschreiten. Die essen ja alles. Gebärmutter vom Schwein. Oder Eierstöcke vom Huhn.“
„Gebärmutter hab ich in Thailand probiert“, sag ich. „Schmeckt ganz okay. Außerdem ist es doch nachhaltig, wenn man das ganze Tier verwertet.“
„Ja, aber das gilt hier trotzdem als Schlachtabfälle. Und die zu verkaufen ist verboten. Das gleiche mit den Insekten. Aktuell dürfen die nur in Belgien als Lebensmittel gezüchtet werden. Zumindest bis 2018. Da tritt die Verordnung 258-97 in Kraft, dann ist das auch in Deutschland erlaubt.“
Am Kühlregal nimmt sie die Enteneier aus Ungarn in Augenschein, greift sich eine Packung und stürmt zum Büro von Herrn Wong: „Wie viele Ihrer deutschen oder vietnamesischen Kunden sprechen ungarisch?“
„Ich weiß nicht“, sagt Monsieur Wong.
„Die Nummer vom Importeur, bitte.“ Sie zählt noch ein paar weitere Makel auf. Doch insgesamt merkt man, dass sie den Leuten wohl gesonnen ist. „Man muss immer einen goldenen Mittelweg finden“, sagt sie. „Ich hab schon bei ACHTUNG: KONTROLLE auf Kabel Eins mitgemacht. Die wollen natürlich am liebsten Skandale sehen. Aber es geht in meinem Beruf nicht darum, was zu finden. Sondern gemeinsam für eine Lösung zu sorgen, die dem Gesetz entspricht. Kommen Sie, ich zeig Ihnen mal das Restaurant hier.“

Aber die Fliegenfänger könnt ihr mal wieder wechseln.

Sie führt mich in eine Großküche und grüßt die vietnamesischen Köche einzeln mit Namen. „Das sind seit Jahren die gleichen Leute. Sehr ordentlich. Der Chefkoch Herr Dieu hat immer alles im Griff.“ Herr Dieu verbeugt sich gemessen. „Aber die Fliegenfänger könnt ihr mal wieder wechseln!“
„Wie ist das eigentlich?“, frag ich, während wir in eine andere Halle gehen. „In Prenzlberg hat gerade ein Japaner wegen Rattenbefall dichtgemacht. Aber im Aushang steht irgendwas von technischen Problemen. Gibt’s da keine Auskunftspflicht?“
„Nein, nicht in Deutschland. In Dänemark muss in solchen Fällen das letzte Protokoll veröffentlicht werden. Aber bei uns fällt das alles unter den Datenschutz. So, jetzt müssen wir noch kurz in den Spielzeug-Laden. Da haben wir Weichmacher in ein paar Puppen gefunden.“ Ich erfahre, dass die Lebensmittelaufsicht auch für Kosmetik, Spielzeug, Klamotten zuständig ist. Alles, was vermehrt mit der Haut in Berührung kommt. Und dadurch auch ins Essen gelangen kann.

Nach ein paar weiteren Läden ist Mittag. Wir setzen uns zu einer Vietnamesin, die Hausmannskost zubereitet, und löffeln schwarzen Reis mit Joghurt.
„Was gefällt Ihnen an dem Job?“, will ich wissen.
„Dass ich mir meinen Ablauf selbst einteilen kann. Außerdem lernt man viele Menschen kennen. Ich hab hier Türken, Inder, Pakistanis, Polen, Vietnamesen. Das macht mich nicht grade dümmer. Im Gegenteil.“
„Und können Sie noch entspannt essen gehen? Oder nur in den Läden, die Sie selbst kontrolliert haben?“
Sie wiegt bedächtig den Kopf. „Ich bestelle meistens eher Sachen, die risikofrei sind. Suppen, zum Beispiel. Die sind gut durch erhitzt.“
Als unsere Becher leer sind, verlassen wir das Dong Xuan Center und gehen zu Fuß in den russischen Supermarkt an der Möllendorffstraße. Frau Leymann grüßt die Mädels hinter der Bäckertheke: „Na, ausgeschlafen?“ Offenbar waren die auch alle auf dem Deutsch- Russischen Fest. Wieder streifen wir uns die Kittel über, kontrollieren Wursttheke, Fischbecken, Tiefkühlfächer.
„Das Korianderbrot hier müssen Sie mal probieren“, sagt sie. „Und der Wodka ist auch sehr zu empfehlen.“
„Welche Sorte? Von den Russen krieg ich da nie eine Antwort.“
„Baikal. Oder Pjat Oser.“

Der putzt das Scheißhaus und steckt danach die Broiler auf’n Grill!

Ein Mann nähert sich uns. Deutscher Rentner mit Hut. Er baut sich vor Frau Leymann auf. „Sind Sie vom Gesundheitsamt?“, fragt er.
„Lebensmittelaufsicht“, sag ich.
„Sie müssen mal rüber zum Imbiss Pinocchio gehen! Der putzt das Scheißhaus und steckt danach die Broiler auf’n Grill!“
„Also bitte“, sagt Frau Leymann. „Nicht übertreiben. Wir haben ihn auf dem Schirm.“
„Der spuckt doch ins essen!“
„Wir haben ein paar Dinge beanstandet. Aber so schlimm ist es nicht.“
„Ich will ja nur helfen“, sagt der Rentner.
„Ja, vielen Dank.“

Während Frau Leymann das Protokoll schreibt, trinke ich Kwas vom Fass.
„Wodka niecht russische Nationalgetränk“, klärt mich die Verkäuferin auf. „KWAS IST RUSSISCHE NATIONALGETRÄNK!“ Ich nehme artig noch einen Schluck.
„In vier Wochen fahr ich auch nach Russland“, sagt Frau Leymann und man sieht ihr die Vorfreude an. „Mit der Transsibirischen Eisenbahn zum Baikalsee. Das ist so ein Kindheitstraum.“
„Wird man da im Zug nicht fürchterlich abgefüllt?“
„Mich füllt gar niemand ab. Das bestimme ich immer noch selbst! Außerdem bin ich die einzige in unserer Gruppe, die russisch spricht.“
„Trinken Sie gar keinen Wodka?“
„Doch. Aber auch da muss man einen goldenen Mittelweg finden.“
„So wie bei den Kontrollen?“
„Genau.“
„Und haben Sie es nicht manchmal satt, andere immer wieder auf die gleichen Fehler aufmerksam zu machen?“
„Ich tue, was getan werden muss. Aber klar, manchmal ist es schwierig. Wenn ich ein Restaurant für vier, fünf Tage schließen lassen muss, frag ich mich zuhause dann schon, ob ich die Existenz von jemandem bedrohe. Da muss allerdings einiges vorfallen, bis es soweit kommt.“
Sie setzt ihren Kringel unter das Protokoll, zieht den Kittel aus.
„Letzten Endes bin ich eine Mischung aus Behörde, Mutter Theresa und Oberlehrer. Ich stehe für das Gesetz. Suche nach Lösungen, die für alle erträglich sind. Und greife durch, wenn es nötig ist. Wie schmeckt ihr Kwas?“
„Himmlisch“, sag ich und schenke mir nach.

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