Sind wir eigentlich alle noch ganz dicht?

Es wird Zeit, mit einem Berliner Tabu aufzuräumen.

Wir zerreißen uns die Mäuler über neurotische Stillmütter. Über anorektische Veganer, adipöse Weight Watcher, aufgeblasene Crossfitter und hysterische Mompreneurs. Wir verurteilen Schwaben, lachen über Glutenintolerante und hetzen gegen Soho-House-Mitglieder. Wir Berliner, ja, alle, auch die Zugezogenen, machen den Abriss noch vor dem Aufriss. Koksende Berghainer, flexitarische Prenzlauer Berger, betrügende Kreuzberger und snobistische Grunewalder, hoffnungslose Singles und liebesdolle Paare – über sie, all jene, wurde geschrieben, gebloggt und gemobbt.

Doch was bleibt, wenn Minderheiten zu mehrheitlichem Spott und den vermeintlich innovativen Lebenskonzepten das letzte bisschen Story entnommen wurde? Ich sage euch, was bleibt: die Tabuzonen. Die verbalen No-go-Areas. Die semantischen Todesstreifen.

Nämlich: Berlins Trendkranke.

Muss man nachvollziehbare Ängste und Defizite im Sozialverhalten als anerkannte, für wahre Betroffene unerträgliche Zustände tarnen?

Schluss mit lustig, Schluss mit der Schonfrist, Schluss mit zugedrückten, verständnisvollen Augen. Es wird Zeit, dass wir unsere Augen vor den bipolaren, manisch depressiven, ausgeburnten Trittbrettfahrern nicht verschließen. Den Aufschrei könnt ihr euch gleich sparen, denn ich weiß, dass wir alle jemanden kennen, der nicht alle Latten am Zaun hat. Und nicht, weil dieser jemand klinisch diagnostiziert, psychisch labil ist. Sondern ganz alleine aus dem Grund, weil es heutzutage in der Anonymität Berlins so wahnsinnig einfach ist, auf den Depressions-, Ambivalents- und Maniezug aufzuspringen. Also beruhigt euch bitte.

Meine Freundinnen berichten von Männern, die ihre blanke Unzuverlässigkeit und Ungezogenheit hinter, teils fantastischen, Psycho-Wortspielen verstecken. Der eine, der ihr nach vier Wochen nie wieder schrieb, litt von einem Tag auf den anderen am "Rapid Cycling"-Syndrom (Bipolare Störung mit mindestens vier Stimmungsumschwüngen im Jahr). Der andere, der kurz nach dem Sex Wutausbrüche bekam, stand kurz vor einem Burnout. Die eine, die einem guten Freund während eines Streits beinahe die Augen auskratze, entschuldigte ihr Verhalten mit "Angststörung". Später stellte sich heraus, dass diese ganz speziellen Angststörungen nur bei XX-Chromosomen aus dem Raum Pinneberg auftauchten. Einmal im Schaltjahr.

Psychosen und Neurosen werden neuerdings zelebriert wie der letzte Abend des King Size: Laut, schamlos und bis der letzte Hartgesottene heulend in der Ecke liegt.

Wir leben in einer Zeit, in der es kaum Tabus mehr gibt. Wir entblößen unser Innerstes wie lebensmüde Exhibitionisten. Ist auch nur verständlich, denn jeder hat Verständnis für alles. Unsichere Riester-Renten, der drohende Zerfall der EU, Primarks Siegeszug, Flüchtlingstracks, der Zerfall der Ehe auf Lebenszeit. Da darf man ruhig mal durchdrehen, da darf man ruhig mal ausrasten. Doch muss man nachvollziehbare Ängste und Defizite im Sozialverhalten als anerkannte, für wahre Betroffene unerträgliche Zustände tarnen? "Das kannste so machen, aber dann isses halt kacke", sagte bereits der anonyme Tumblr-Blogger.

Psychosen und Neurosen werden neuerdings zelebriert wie der letzte Abend des King Size: laut, schamlos und bis der letzte Hartgesottene heulend in der Ecke liegt. Sie werden vor uns herumgetragen wie der neueste Acne-Hüftbeutel, nicht selten rühmen sich vermeintlich Betroffene mit der Tatsache, die Dunkelheit in sich erkannt zu haben. Dabei heulen sie in den Berliner Nachthimmel wie an Tollwut erkrankte Werwölfe. Die Manie als Motor der Melancholie. Und wer weiß, dass viele Kreative erst dann anfangen zu funktionieren, wenn sie am Ende sind, der wird auch diese Formel verstehen.

Ob nun das Ei, Berlin, die Psychopathen oder das Huhn zuerst da war, kann ich nicht beantworten. Was ich jedoch weiß, ist, dass unsere gekünstelten Bipolarbären genauso zum Stadtbild gehören wie einst der Eisbär Knut. Diese ungeplanten Abende, an denen man die zukünftige signifikant Andere oder den signifikant Anderen kennenlernt, um dann drei Tage später völlig entgeistert neben einem leeren Kopfkissen aufzuwachen. All das ist Berlin. Und wer sich an einem Sonntagvormittag freiwillig im Roamers durch den überfüllten Gang schubsen lässt, dem kann nicht mehr geholfen werden.

Ich google nach "Pschychologe + Berlin". Über 1.600 Einträge, und das sind nur jene mit Kassenzulassungen. Ohne die Dunkelziffer der privaten Hinterhofanalytiker, der Schamanen und Ayahuasca-Wunderheiler. Rufe in 1.275 Praxen an, der früheste verfügbare Termin wäre im Mai 2017. Auf meine Frage, ob das normal sei, antwortet eine Sprechstundenhilfe: "Was ist denn schon normal?"

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