Rigaer Straße 94 – Gefahrenzone ohne Gefahr?
Ich bin auf dem Weg in die Rigaer Straße. In den Kiez, der vor sieben Monaten als Gefahrenzone eingestuft wurde. Am vergangenen Samstag hat es hier laut Medien die schlimmsten Ausschreitungen seit fünf Jahren gegeben. Ich bin ein bisschen nervös, ziehe deshalb meine Deeskalations-Birkenstocks an. Fahre nochmal extra nach Hause, um meinen Ausweis zu holen.
Vom Bersarinplatz kommend wage ich mich vor bis zur Liebigstraße. Alles wirkt ruhig, völlig normal. Nicht anders als in Neukölln oder Charlottenburg. Hier und da stehen kleine Gruppen von Leuten beisammen. Ein RBB-Bus parkt an der Ecke.
Polizisten sehe ich erst vor dem Haus, um das sich das ganze Spektakel dreht. „R94“ ist mit Hamburger Gittern von der Straße abgeschirmt. Zwei junge Beamte flankieren den Durchgang zum Hof. Sie tragen nur leichte Panzerung. Ganz im Gegensatz zu den ungefähr dreißig anderen Polizisten, die in den nebenan parkenden Wannen sitzen.
Auch hier ist es merkwürdig still. Für mich liegt nur deshalb Spannung in der Luft, weil ich weiß, dass es hier am Wochenende geknallt hat. Und weil die Anwesenheit von soviel Polizei selten ein friedliches Bild vermittelt. Ich gehe erstmal ins Bistro Holiday, Rigaer, Ecke Proskauer Straße und frage den Dönerverkäufer Öztürk, ob er etwas von den Krawallen am Samstag mitgekriegt hat. Er schüttelt den Kopf.
„Die Demo ist hier vorbei gekommen. Aber hier ist nix passiert.“
„Und wie ist der Alltag im Kiez so?“
„Alles easy, mein Freund. Die Anwohner sind entspannt, wir sind entspannt. Okay, manchmal ärgern sich unsere Kunden, wenn sie vor dem Laden von der Polizei kontrolliert werden und ihr Döner dabei kalt wird. Is ja auch scheiße.“
„Gibt es viele Kontrollen?“
„Ja, viele Kontrollen, mein Freund.“
„Und hast du Angst, dein Auto hier in der Gegend zu parken?“
„Nein. Wieso das denn?“
„Naja, weil es angezündet werden könnte.“
„Ich parke immer direkt vor dem Haus. Is noch nie was passiert.“
Im indischen Restaurant schräg gegenüber kriege ich ähnliche Antworten. Der Besitzer und sein Sohn sind völlig relaxt, fühlen sich in ihrem Kiez kein bisschen bedroht.
„Auch nicht bei der Demo am Samstag?“, bohre ich weiter.
„Nein, gar nicht. Die meisten von den Leuten, die da mitgelaufen sind, kennen wir ja. Als sie hier vorbei kamen, haben sie sogar mit den Parolen aufgehört. Und stattdessen gerufen, dass unser Essen super ist.“
Presse! Ihr schreibt immer hier alles Problem!
Ich gehe wieder Richtung Bersarinplatz, kaufe mir beim Späti ein Wasser. Als der Besitzer hört, dass ich von der Presse bin, will er zuerst nicht mit mir reden.
„Presse!“, schimpft er. „Ihr schreibt immer, hier alles Problem. Sitzt mit Arsch in Büro und sagt: 'Rigaer Straße, Problem.' Ich wohne hier 13 Jahre. Nie Problem. Gute Nachbarschaft. Polizei ist einzige Problem!“
Als ich ihm sage, dass ich eigentlich auch nur über die Nachbarschaft und den Alltag hier schreiben will, bietet er mir Kaffee an.
„Und du sagst, die Polizei hier ist ein Problem?“, frage ich.
„Naja, Polizei hilft mir auch. Wenn ich hab Ärger mit betrunkene Menschen: Kommt vor! Dann sie helfen. Aber jetzt nicht helfen. Polizei soll nur kommen, wenn man sie braucht. Jetzt sie sind immer da. Dauernd Kontrollen! Ich hab keine Laufkundschaft mehr. Leute sehen: Polizeikontrolle. Leute gehen weg.“
„Also hast du jetzt weniger Kundschaft?“
„Ja! Gestern mein Nachbar will kommen. Wohnt in Haus nebenan. Polizei lässt ihn nicht durch. Viele Leute kommen nicht durch. Ist scheiße!“
„Aber heute gibt es keine Kontrollen.“
„Ja, heute nicht. Aber sonst immer. So viele Polizisten! Im Januar: 500 Polizisten durchsuchen R94. Kostet soviel Geld! Für das Geld man könnte R94 kaufen!“
Zwischen Polizei-Sixpacks und Kinderwägen
Während unseres Gesprächs grüßt er alle vorbeigehenden Passanten mit Namen, wechselt mit jedem ein paar nette Worte. Irgendwie scheinen sich hier alle zu kennen.
Drei Jungs, um die acht Jahre alt, stehen in der Nähe.
„Habt ihr Angst?“, frage ich.
„Näh, Mann. Hast du Angst?“
„Eigentlich nicht.“
Die Straßen beleben sich unterdessen. Überall Eltern, die ihre Kinder von der Schule oder einer der zahlreichen Kitas abholen. Väter und Mütter mit Kinderwägen, Kinder auf Fahrradsitzen, Babys in Bauchtragen. Ist ja der reine Prenzl'berg hier. Absurd, dass ich am Morgen noch Angst hatte herzukommen.
Ein DHL-Wagen parkt neben mir in zweiter Reihe. Ich frage den Fahrer Michal, wie die Zustellung seit dem Ausnahmezustand läuft.
„Geht so“, sagt er. „Ich finde keine Parkplätze mehr. Alles belegt von der Polizei. Ich muss dauernd im Halteverbot stehen.“
„Und kriegst du dann Ärger von ihnen?“
„Nein, sie drücken ein Auge zu. Aber am Samstag war die ganze Straße gesperrt. DHL hat alle Lieferungen zurückgestellt. "Zustellung in Rigaer Straße nicht möglich." Da hatte ich am Montag ein bisschen mehr zu tun.“
Die einzige Bedrohung scheint die Polizei zu sein
Mein Blick fällt auf ein Fenster in einem sanierten Altbau. Ein Plakat klebt an der Scheibe: "SCHLUSS mit dem POLIZEI-TERROR!" Noch während ich es fotografiere, wird das Fenster von einem Mann im gelben Hemd geöffnet.
„Für wen schreiben Sie?“, pflaumt er mich an. Und ich muss unwillkürlich denken: "Oje, ein Wutbürger."
„Für Mit Vergnügen“, sag ich.
„Na, gut. Dann geb ich Ihnen mal was zum Schreiben: SCHÖNER LEBEN OHNE HENKEL & CO. Der macht das doch alles nur, weil er Stimmen braucht. Wir wohnen hier seit Jahren friedlich zusammen. Alte, Junge, Deutsche, Migranten. Wir fühlen uns sicher, weil wir aufeinander aufpassen. Und jetzt wird der ganze Block hier grundverdächtigt. Soll ich Ihnen was sagen? Die einzige Bedrohung hier ist die Polizei.“
Höchste Zeit, die Beamten selbst mal nach ihrer Meinung zu fragen. Ich passe drei von ihnen ab. Eine Frau, zwei Männer, alle in meinem Alter.
„Darf ich kurz stören? Ich schreibe eine Reportage über...“
„Wenden Sie sich bitte an die Pressestelle“, werde ich unterbrochen.
„Ich wollte eigentlich nur wissen, wie die Stimmung bei Ihnen ist. Ob Sie die Nachbarschaft als feindselig empfinden.“
„Das müssen Sie die Pressestelle fragen. Obwohl Sie da wohl kaum die Antworten kriegen werden, die Sie hören wollen.“
„Okay“, sag ich. „Trotzdem danke.“
Ich wackle weiter, kehre beim Bäcker 2000 ein, der in den Schlagzeilen war, weil er sich verbeten hat, dass die Polizisten zu Hunderten auf sein Klo gehen.
„Und, kommen sie noch zum Pullern vorbei?“, frag ich.
„Nein, das haben sie scheinbar eingesehen. Aber ich will nicht mehr drüber reden. Ich komm nur zum Arbeiten her. Wenn du was wissen willst, frag die Anwohner. Die sind 24 Stunden am Tag hier.“
„Alles klar. Darf ich mal pullern gehen?“
„Klar, warum nicht.“
Müde schlepp ich mich zurück zu R94. Raffe mich nochmal dazu auf, eine Mutter anzusprechen, die ihren zweijährigen Sohn aus der Kita direkt gegenüber abholt. Doch auch sie sagt, dass sie sich keine Sorgen macht. Dass es nur schade ist, wenn Hausprojekte wie R94 dichtgemacht werden.
Ich steh da und sehe meine Felle wegschwimmen. Wie soll ich aus soviel Unaufgeregtheit eine Story basteln? Und in dem Moment wird mir klar: Vielleicht ist genau das das Problem. Dass alle nach einer Story suchen. Vielleicht gibt es einfach keine Story. Die Menschen hier leben ihr Leben. Ertragen mit der stoischen Berliner Art die ständige Polizeipräsenz. Was sollen sie auch anderes tun?
Die Menschen ertragen mit der stoischen Berliner Art die ständige Polizeipräsenz. Was sollen sie auch anderes tun?
Ich gehe zurück zum „Dorfplatz“, wie die Anwohner die Kreuzung Liebig, Ecke Rigaer nennen. Unter einem Schild mit der Aufschrift "HUNGERSTREIK" sitzt eine Gruppe von Leuten, die mich den ganzen Tag schon spöttisch gemustert haben. Sie bieten mir einen Platz auf einem leeren Bierkasten an.
„Ich bleibe im Hungerstreik, bis die Gefahrenzone aufgelöst wird“, erklärt Olaf, der seit dem 30. Juni nichts gegessen hat. Er ist Satiriker und parteiloser Kandidat bei der Wahl zum Abgeordnetenhaus. Während wir uns unterhalten, stoßen immer mehr Menschen zu uns. Die Stimmung ist ausgelassen.
Ich lerne Thorsten von Friedrichshain Hilft kennen und will wissen, was er davon hält, dass manche Zeitungen die R94-Bewohner mit Neonazis gleichsetzen, weil sie sich angeblich gegen die Unterbringung von Flüchtenden wehren.
„Wir haben im September 2015 eine Spendenkammer im 1. OG von R94 eingerichtet. Jeden Dienstag und Donnerstag haben wir im Hof Kleider- und sonstige Spenden entgegengenommen. Als im November um die 400 Flüchtenden in den Unterkünften in Gürtel- und Otto-Ostrowski-Straße untergebracht wurden, wurden die mit Winterkleidung aus R94 versorgt. Doch seit dem Besuchsverbot werden wir nicht in unsere eigene Spendenkammer gelassen. Wir kommen nicht mehr an die Hilfsgüter ran.“
„Es ist gleich neun!“, werden wir von einem Punker unterbrochen. Alle springen auf, holen von irgendwoher Töpfe, Pfannen, kleine Metallrohre hervor. Als die Kirchenglocken die Uhrzeit kundtun, stimmt der ganze Platz in den Lärm ein. Trommeln für den Frieden. Für eine halbe Stunde ist jeder so laut, wie er kann. Die Polizisten stehen ratlos daneben.
„Ich mach dann mal los“, sag ich, als es vorbei ist.
„Okay“, sagt Thorsten. „Danke für deinen Besuch in der Gefahrenzone.“
„Ich hoffe, mir passiert nichts auf dem Heimweg“, sag ich. „Hab ja schließlich noch fast 200 Meter Rigaer Straße vor mir.“
Aber ich hab keine Angst. Ich bin nur verwundert, dass sich sämtliche Anwohner und Ladenbesitzer darin einig zu sein scheinen, dass der Kiez absolut harmlos ist. Vielleicht bilden sie da auch eine Front gegenüber dem Außenstehenden. So oder so: Bei den momentan herrschenden Umständen kann ich es ihnen nicht verdenken.