Ein Hassliebesgedicht an den Wedding

Wenn du frei bist von Furcht,
oder müde vom Leben,
so geh auf der Brunnenstraße nach Norden.
Lass Mauerstreifen und Humboldthain hinter dir,
geh weiter, bis keine Laterne mehr brennt.
Wenn dann dein Navi vergeblich nach Satelliten sucht,
und Barrikaden von Sperrmüll dein Echo verschlucken,
bist du da: im Herzen des Wedding.

Zwei U-Bahn-Linien durchqueren ihn,
doch kein Fahrer hat jemals zu halten gewagt.
Ein dunkler Bereich zwischen Mitte und Reinickendorf,
ein Paradies für Spinner und Barden.

Der Wilde Westen, das Outback Berlins,
wo Anonyme Alkoholiker die Hauseingänge bewachen,
und man Familienstreits mit der Waffe löst.
Wo man sich wie in Las Vegas fühlt,
wenn das Blaulicht des Sondereinsatzkommandos
die Leuchtreklamen der Wettbüros illuminiert.

Wo der Kinderwagen trotz mehrerer Schlösser geklaut wird,
wo man nie einen funktionierenden Fahrstuhl sah,
wo Pfandsammler das obere Ende der Karriereleiter markieren,
Und ein Zebrastreifen stets tödlich war.

Hier wird noch klassisch mit der Friteuse gekocht
Und gelüftet ins Treppenhaus.
Und wenn man Bus fährt
zwischen Plötzensee und Leopoldplatz
und dem Fahrer den Fahrausweis zeigt, steigt
dieser voll in die Eisen und brüllt:
„Ick hab dich nich nach deiner Lebensjeschichte jefragt!“

Ob am Nettelbeckplatz oder den Gärten des Virchow,
man fliegt immer unterm Radar.
Ob in Schillerpark oder im Schatten von Schering,
stets riecht es nach Weichspüler und fettigem Haar.

Ich hab mich noch nie so zuhause gefühlt.
Konnte meine Psychosen nie besser verbergen,
als in den Eckkneipen zwischen
Schichtarbeitern und Junkies.
Deshalb werd ich hier bleiben
und weiter laut singen:
"Ick steh uff Wedding,
dit is meen Ding."


Clints Hassliebesgedicht über den Prenzlauer Berg gibt's hier.

Titelfoto: © davemc/flickrCC

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