Den Weihnachtsmann gibt es doch – und er ist ein Sexist

© Filmstill "Bad Santa"

Woher kommen die Weihnachtsmänner, die man für Heiligabend buchen kann? Was sind das für Menschen? Und wer bildet sie aus? In Berlin gibt es zwei große Anlaufstellen für Leute, die sich am 24. was dazu verdienen wollen: Das Studentenwerk und die Weihnachtsmannzenrale-Berlin. Da man für Erstgenannte immatrikuliert sein muss und ich kein Student bin, bleibt nur die zweite Möglichkeit, wenn ich Antwort auf meine Fragen finden will.

Die Webseite wirkt ein bisschen Drückermäßig. Worte wie "Kaution" und "Provision" stechen mir ins Auge. Man muss ein Kostüm kaufen und alle Steuern und Abgaben selbst abführen. Den Anweisungen für Bewerber folgend rufe ich in der Akademie an, um einen Castingtermin zu vereinbaren.

"Bringense Ihren Ausweis mit.", sagt Herr Patze (Name geändert). Der Oberweihnachtsmann persönlich. "Und machense sich ma 'n paar Gedanken, wat Weihnachten bedeutet."

Wir wollen uns als Weihnachtsmann-Engel-Team bewerben.

Wenn man sich im Casting bewährt, folgt eine dreistündige Schulung. Erst dann wird man auf die Menschheit losgelassen. Am betreffenden Abend fahre ich mit der S-Bahn zur angegebenen Adresse im nördlichen Speckgürtel. Kollegin Wiebke aus der Redaktion ist bei mir. Wir wollen uns als Weihnachtsmann-Engel-Team bewerben. Auf der Fahrt fällt andauernd das Licht aus. Als wir die Endstation erreichen, fühlt sich die Zivilisation schon sehr fern an. Aber es geht noch weiter, zu Fuß, die Bundesstraße entlang. Nachdem das letzte Licht einer Straßenlaterne hinter uns liegt, biegen wir in einen Forstweg ein.

"Magst du auch Blair Witch Project?", frag ich nach dem ersten Kilometer im Wald.
"Hör bitte auf", sagt Wiebke.

Dabei will ich mich nur von meiner Angst ablenken, im nächsten Moment von irgendwelchen Redneck-Wüstlingen überfallen und umgebracht gebracht zu werden. Immerhin überholt uns hin und wieder ein Auto. Nach einem weiteren Kilometer dann Licht vor uns. Eine Handvoll Einfamilienhäuser an einer Lehmstraße. Die meisten davon mit blinkendem Klimbim geschmückt. Nur auf dem Grundstück, das unser Ziel sein soll, herrscht völlige Finsternis. Wir irren eine Weile die Straße entlang.

Auf der Fahrt fällt andauernd das Licht aus. Als wir die Endstation erreichen, fühlt sich die Zivilisation schon sehr fern an.

"Ich muss aufs Klo", sag ich ärgerlich.
"Ja, ich auch."

Irgendwann gebe ich auf und zücke mein Telefon. "Ja, da warn 'se schon richtig“, ruft Patze. "Hinter dem schwarzen Lieferwagen. Bis gleich, ich freu mich!"

Wir betreten also das dunkle Grundstück und tatsächlich: Hinter Kiefern verborgen steht eine winzige Datscha. Die Tür öffnet sich und ein Gesicht mit Brille und grauem Rauschebart taucht auf. "Ja, hier hinten. Ick mach nochma' zu. Wird sonst kalt.“ Er schließt die Tür wieder.

"Wo sind wir hier?", flüstert Wiebke.
"Du hast mir den Link zur Akademie geschickt", sag ich. "Ich kann nix dafür."

Der Weihnachtsmann wohnt in einer dunklen Datscha im Norden Berlins

Ich öffne die Tür und will sagen "nach dir", doch dann siegt mein Beschützerinstinkt. Im nächsten Moment bin ich froh, nicht allein zu sein. Denn und das würde mir nie jemand glauben: Wir stehen in einem höchstens sechs Quadratmeter großen Raum, der von einem Sideboard mit Flachbildfernseher getrennt wird. Dahinter ist nur noch Platz für einen kleinen Sessel und ein Bett mit zerwühlten Decken. An den Wänden Setzkästen mit Nippes-Figuren, Poster von Brigitte Bardot und der Bergmann. Ich muss mich ducken, weil irgendwas von oben herunter hängt. Und auf jeder, wirklich jeder freien Fläche steht ein überquellender Aschenbecher.

"Setzen Sie sich", sagt Herr Patze. "Ach so, wir ham gar keen zweeten Stuhl. Na, dann geht eben eener uffs Bett. Bin gleich wieder da."

Er verschwindet in einem angrenzenden Zimmerchen. Mehrere Stimmen sind von dort zu hören. Kurz erhasche ich einen Blick auf eine Frau mit altmodischem Headset, dann schließt sich die Tür.

"Willst du aufs Bett?", frag ich, doch Wiebke ist schon zum Sessel gestürzt. Ich lasse mich auf das Fußende sinken, betrachte das schmuddelige Laken. Wie man's auch drehen und wenden will: Der schläft hier. Ich sitze im Bett von Herrn Patze.

Wir stehen in einem höchstens sechs Quadratmeter großen Raum, der von einem Sideboard mit Flachbildfernseher getrennt wird.

"Sooo", sagt er, als er mit zwei Formularen wieder kommt und sich neben mich legt. "Die könnense schon mal ausfüllen. Ich mach mir 'n paar Notizen." Sein Fuß berührt mich sachte am Rücken. "Aber was ick hier sehe, jefällt mir schon mal. Ja, das gibt 'ne gute Bewertung." Er zeichnet drei mal drei Sterne in eine Tabelle.

"Hoho", ruft er. "Schon neun Sterne in den ersten drei Kategorien! Soviel kriegen die meisten Engel nicht mal insgesamt."
"Und was sind das für Kategorien?", fragt Wiebke.
"Aussehen, Ausstrahlung und blonde Haare. Ich sag immer, das sind die 'Unter der Gürtellinie'-Kategorien. Mal sehen, was Sie sonst noch drauf haben. Wir können uns auch duzen."

Er drückt seinen Kopf noch tiefer ins Kissen. Tabakkrümel auf seinem T-Shirt mit der Aufschrift "Ohne mich läuft nichts". Sein Bauch hat eine Delle wie von einem Nabelbruch.

"Vielleicht kann er mal anfangen", sagt Patze.
"Wer jetzt, ich?", frag ich.
"Ja. Kann er irgendein Weihnachtsgedicht?"

Ich überlege, starre in das Sideboard vor mir. Dort stehen mehrere Shampooflaschen derselben Marke. Sonnencreme. Ein weiterer Aschenbecher.

Engel-Voraussetzungen: Aussehen, Ausstrahlung und blonde Haare

"Mir fällt grad keins ein."
"Jut, nächste Frage. Was hat der Weihnachtsmann immer dabei?"
"Einen Sack?"
"Das mein ich jetzt nicht.“
"Ein... Buch", sag ich, weil neben ihm ein dickes Buch liegt.
"Ich hätte vor dem Wort Buch gern noch ein Adjektiv", sagt Patze streng. "Stand auch in dem Zettel, den ich Ihnen zum Lesen gegeben hab."
"Ein goldenes Buch", sagt Wiebke.
"Genau!", ruft der Weihnachtsmann und greift nach dem Buch. Es ist grün. "Ich merke, sie hat Abitur. Da kannste det mal nehmen und die erste Seite aufschlagen. Lies dir den Text zweimal durch. Und ich mach mit ihm weiter."

In dem Moment kommt die Frau aus dem Nebenzimmer. Auf ihrem Shirt steht I LOVE X-MAS und sie hat es tief in ihre Leggings gesteckt.

"Snoopy fragt, ob ihr ihn nachher mit in die Stadt nehmen könnt?"
"Wir sind mit der Bahn hier", sag ich.
"Oh, schade."

In Wiebkes Augen steht die gleiche Frage geschrieben, die mich beschäftigt: Wer zur Hölle ist Snoopy? Der Weihnachtsmann räuspert sich laut.

Wer zur Hölle ist Snoopy?

"Also, konzentrieren jetzt. Heiligabend. Du telefonierst mit dem Vater, der dich bestellt hat. Was fragst du?"
"Ähm..." Ich will hier weg. "Vielleicht... ähm... wie alt das Kind ist?"
"Falsch. Das ist die zweite Frage."

Drückendes Schweigen. Wiebke springt in die Bresche: "Wie heißt das Kind?"
"GENAU! Sehr gut. Du bist klug UND unglaublich hübsch. Nichts für ungut.", sagt er zu mir. "Will dich nicht eifersüchtig machen. Sind wir mit Lesen fertig?"

Wiebke nickt.

"Na, dann los. Vorlesen." Sie beginnt mit der ersten Zeile, wird sofort von ihm unterbrochen. "Vielleicht 'n bisschen langsamer. Und betonen." Wiebke betont übertrieben deutlich. Sein Blick wird glasig.

"Jaaa", raunt er. "Du hast wirklich eine Ausstrahlung, das hab ich seit Jahren nicht erlebt. Du könntest sogar mit dem Oberweihnachtsmann auf Tour gehen. Dich würd ich schon ordentlich zurecht trimmen, jaja..."

In der Folge soll Wiebke ihm beim Vorlesen Blicke zuwerfen. Ich frage mich langsam, ob ich irgendwas machen muss. Oder ist das zu machomäßig?

Du könntest sogar mit dem Oberweihnachtsmann auf Tour gehen. Dich würd ich schon ordentlich zurecht trimmen.

"Du hast wirklich eine wunderbar klare Stimme“, sagt Patze und macht eine Notiz in ihrer Tabelle: "Klare Stimme". Zwei Sterne. "Und jetzt singt O' Tannenbaum. Im Duett. Los."

Wir singen, bringen dabei GRÜNE und SCHÖNE Blätter durcheinander. "Naja, besonders textsicher seid ihr ja nicht", meint er. "Wie schön sind deine Blätter? Das singen normal nur die Türken. In der völkischen, reinen Version heißt es eh: Wie treu sind deine Blätter."
"Und wer hat die geschrieben?", frag ich. "Turnvater Jahn?"
"Gute Frage", meint er. "Weiß ich jetzt gar nicht." Dafür kriege ich einen Stern.

Es folgen weitere Demütigungen. Vergeblich warte ich auf konkrete Informationen. Wie stellt man sich eine Route zusammen? Was muss mit den Eltern im Vorfeld geklärt werden? Stattdessen spielt Patze uns eine Märchenszene vor. Kommt mir dabei so nahe, dass ich seinen Atem riechen kann. Snoopy huscht kurz durchs Zimmer und sieht nicht so aus, als würde man ihn im Auto mitnehmen wollen.

Sexistische Kommentare, Demütigungen und unkonkrete Informationen

"Gut, dann zählen wir mal zusammen.", sagt der Weihnachtsmann irgendwann. "Hallo, hallo, mein Engel. Neunzehn Sterne! Der Durchschnitt sind 11 oder 12. Aber bei dem Aussehen. Ihr seid doch ein Paar, oder?"
"Nein", sag ich und bemerke dann Wiebkes Zögern. Hab ich jetzt den Weg für noch mehr Annäherungen geebnet?
"Ihr kommt dann am 16. zur Schulung und bringt euer eigenes Kostüm mit. Gibt's bei Deko-Meyer. Mit diesen Marken kriegt ihr zehn Prozent Rabatt. Ihr wollt doch immer noch mitmachen?"
"Klar!", sage ich heiter.
"Natürlich.", sagt Wiebke.
"Steh mal auf!", meint Patze zu ihr. Meine Körperspannung wächst. "Zeig mal deine Figur. Aha, eher zierlich. Größe?"
"36", sagt sie.
"Wir haben nämlich grade ein paar Hochzeitskleider gekriegt. Die sind hier irgendwo. Da könnten wir dir eins leihen für dein Engelkostüm."
"Okay."
"Gut, ich zieh mir schnell was an, dann fahr ich euch zum Bahnhof zurück."
"Ach, Quatsch!", ruf ich. "Wir laufen. Ist doch schön für Stadtkinder wie uns, so durch den Wald zu spazieren."
"Na, gut. Ist mir auch lieber. Bis zum 16. dann!"

"Vielleicht frag ich doch lieber mal beim Studentenwerk an"

Wir merken erst draußen, wie sehr wir nach Essen und Rauch riechen.

"Vielleicht frag ich doch lieber mal beim Studentenwerk an", sagt Wiebke.
"Vielleicht keine schlechte Idee."
"Ich fühl mich ganz schlecht.“
"Aber du hast 'ne tolle Ausstrahlung."

Eilig rennen wir in den Blair-Witch-Wald. Wir sind beide unendlich erleichtert...

Zurück zur Startseite