"Suchen 2 neue Mitbewohner, denn der eine ist ein Arsch" – Zu Besuch in der Chaos-WG von Berlin

Dienstagnacht sitzen Anton und Marc in ihrer Wohnung in Berlin-Friedrichshain. Sie rauchen, trinken Bier und eine halbe Flasche Pfeffi und machen sich daran, einen Nachmieter für ihren Mitbewohner Toni zu suchen. Sie schreiben eine Anzeige bei WG-Gesucht und tippen einfach darauf los. Die Überschrift: "Suchen 2 neue Mitbewohner, denn der alte ist ein Arsch". Und darunter: "Also wir trinken Sternburg und rauchen in der ganzen Bude und sind mega unordentlich und wir brauchen wer der aufräumt!! Und bring Bier mit!! Oder Wein. Ist auch gut, Und am besten ist wenn du eine Konsole hast auf der Fifa geht...und wir immer darauf zocken können." Gegen 4 Uhr morgens veröffentlichen sie die Anzeige. 

Ich habe diese zufällig auf meiner Facebook-Timeline entdeckt und einen Artikel geschrieben. Danach veröffentlichten Bento, Stern.de, Bild.de, und NTV.de ebenfalls Artikel. Innerhalb kürzester Zeit wird die Annonce medial von der "besten Anzeige des Monats" zur "besten Anzeige aller Zeiten" und die Friedrichshainer WG zur Chaos-WG von Berlin gekürt.

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Heute ist Casting-Tag und ich habe mich angemeldet. Marc, Tony und Anton sitzen rauchend in der Küche. Tony fragt, ob ich Kaffee möchte, um gleich darauf festzustellen, dass es gar keinen Kaffee mehr gibt. Ich schaue mich um und entdecke die Must-Haves jeder WG: den Krümeltee, das Billy-Regal, die Sammlung leerer Tabaktüten,  herumliegende Filter, vertrocknete Pflanzen und Pfandflaschen. An der Wand hängen leicht vergilbte Fotos von Partys und ehemaligen Mitbewohnern. Dennoch hätte ich es mir nach der Anzeige schon wesentlich unordentlicher vorgestellt. Die Herren lachen. „Natürlich haben wir heute noch mal richtig sauber gemacht.“ Natürlich.

Die Jungs selbst hätte ich mir auch anders vorgestellt. Aber vor mir sitzen recht gut gebaute, stylische Jungs, die höflich und gar nicht machohaft sind. Tony zieht aus, weil er ein Jobangebot in Köln hat. Auch dort wird er wieder in eine WG ziehen. Wir machen eine kleine Tour durch die Wohnung.

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Das kleinste Zimmer hat Marc und dient während der Besuche eher als Wäscheabstellkammer. Die Tür bleibt daher zu. Das Zimmer von Tony ist gleichzeitig auch das WG-Wohnzimmer und um dieses Zimmer geht es heute Nachmittag. Tony scheint der Ordentlichste in der WG zu sein. Die Möbel sind farblich aufeinander abgestimmt - ein richtiger Einrichtungsstil ist sogar erkennbar. Hier gibt es die Playstation, zwei (!) Fernseher, ein Couchecke und eine anständige Vinylsammlung. Anton wohnt erst seit sechs Monaten hier. Sein Zimmer blickt auf den gegenüberliegenden Friedhof. An der Wand hängt ein Weihnachtskalender, bei dem nur die erlaubte Anzahl an Türchen geöffnet ist. Im Regal stehen vier Bücher, auf der Matratze eine Decke seines Heimatvereins Hannover 96. „Ist gerade nicht so einfach, Fan zu sein.“ 

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Zur Besichtigung am heutigen Sonntag kommen sechs Bewerber, davon sind drei weiblich. „Nachdem Mit Vergnügen unsere Anzeige gepostet hat, haben sich kaum noch Leute beworben. Vorher lief das ziemlich gut.“ Die Jungs mutmaßen, dass die Leser davon ausgehen, dass sich schon so viele beworben haben oder denken, dass das ein Fake ist. Einer hat geschrieben: „Hab ne PS4, FIFA, nen Fernseher und bin auch ein Wichser. Peace.“ Den haben sie nicht eingeladen. „Eigentlich wollen wir nur Tony ersetzen. Als ich hier eingezogen bin, hat er mir gesagt, dass es eine wichtige Regel gibt. Nämlich, dass man in sein Zimmer immer kommen und rumhängen kann und nicht mal anklopfen muss und das haben wir natürlich gemacht“, sagt Anton.

Mich wundert das hohe weibliche Interesse zur Anzeige. „Es haben sich sogar Mädchen gemeldet, die auch einfach nur mal so zum Playstation spielen vorbeikommen wollten.", berichtet Marc. Tony und er schwärmen von Lara, die die WG mitgegründet hat und vor einem halben Jahr ausgezogen ist. „Sie hat manchmal einfach das Bad geputzt und als sie fertig war, gesagt, dass wir jetzt den Rest machen sollen und das haben wir gemacht. Jetzt gibt es nicht einmal mehr einen Wischmop, denn den hat sie mitgenommen.“ Vom neuen Mitbewohner wünschen sich Marc und Anton eigentlich nur, dass sie etwas in den Arsch getreten werden. Beide arbeiten im Burgerladen von Antons Bruder.

In 10 Minuten kommt die erste richtige Bewerberin. Marc und Anton gehen aber noch mal schnell zu Lidl, um für später einzukaufen, und werden es definitiv nicht pünktlich zurück schaffen. "Sie soll einfach solange bleiben, wie sie lustig ist." Tony schiebt die Stühle ran und bleibt in der Wohnung und wartet. Bevor sie gehen, fragt er sie, ob sie schon mal irgendwas Wichtiges wissen wollen. „Wie zum Beispiel Schufa?" „Ja, das wäre schon nicht schlecht“, sagt Marc. Und hier wird klar, was diese flapsige, betrunkene und etwas anmaßende Anzeige in Wahrheit ist: Sie ist eine Liebeserklärung an Tony. So einen Mitbewohner findet man wohl eher selten. 


Fotos: © Matze Hielscher
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