Lieblingsort auf den zweiten Blick: Rixdorf
Ein Freitag Abend im Juni. Es ist blaue Stunde und ich fahre mit meinem Rad die Karl-Marx-Straße entlang tiefer nach Neukölln hinein. Nach Hause. Es herrscht immer noch viel Verkehr um mich herum, an den Ampeln schlängeln sich Autoaufmärsche. Ich weiche einem zweite‐Reihe‐Parker aus, hinter mir hupt ein aggressiver Autofahrer einen LKW an, der seinen Wendekreis falsch eingeschätzt hat und nun die rechte Spur blockiert. Beide sitzen in ihren luftdichten Metallschüsseln und gestikulieren wild und mit rotem Gesicht. Es ist immer noch warm und die Luft riecht nach Abgasen, gebratenem Essen und Füßen in luftdichten, viel zu warmen Schuhen.
Ich überquere eine Ampel, höre ein letztes Mal die lauten Rufe von zwei Typen, die sich streiten, und biege dann rechts in die Richardstraße ein. Das Licht verändert sich. Die kalte, blaue Straßenbeleuchtung wird zu einem warmen, gelblichen Dorflicht. Die asphaltierte Straße wird Kopfsteinpflaster. Ich steige von meinem Rad und schiebe. Die Häuser sind auf einmal maximal zweigeschossig, die Dächer spitz, die Fenster haben teilweise Fensterläden, vor ihnen hängen Geranien in Blumenkästen. Kleine Vorgärten mit Zäunen, alte Fachwerkhäuser, ein Dorfplatz, eine winzige Gasse und eine Statue. In der Mitte des zentralen Platzes, wie auf dem Dorf.
Rixdorf – ein Ort, der durch seine Geschichte besteht
Wir sind im Dorf. Rixdorf. Ein kleiner Teil Neuköllns. Ein Ort, der durch seine Geschichte besteht, nicht durch die Gegenwart. Ein behütetes Örtchen vergangener Zeit, bedeutendes Kulturdenkmal und ein wunderschöner, ruhiger Ort in der lauten Stadt, den nun auch Investoren für sich entdeckt haben.
Rixdorf wurde 1737 als kleine Gemeinde protestantischer Flüchtlinge gegründet, die aus dem damals katholischen Böhmen flüchteten und hier ihre neue Heimat fanden. Viele Rixdorfer waren im Handwerk tätig. In Betrieb sind heute noch immer ein Kutschenbetrieb und eine alte Schmiede mitten auf dem Richardplatz (Küchenmesser schleifen lassen? Hin da!). Außerdem gibt es die berühmte Blutwurstmanufaktur mitten in Rixdorf, für diejenigen, die es mögen.
Auf dem Richardplatz, dem zentralen Platz, befinden sich in einer langen Reihe sich gegenüber stehende Parkbänke. Dort zu sitzen und all die Menschen zu skizzieren, die dort ebenfalls sitzen und das Treiben um sich herum ansehen, ist die beste Zeichen‐ und Lebensschule überhaupt. Neukölln beherbergt viele Menschen mit unterschiedlichsten soziokulturellen Hintergründen. Alle sitzen hier nebeneinander und machen eine Pause. Die türkische ältere Dame, die vom Markt am Karl-Marx‐Platz kommt, die junge Mutti mit Kind, die diskutierenden laute Halbstarken, der Student mit Handy vor der Nase, das Touristen-Paar, das sich verirrt hat, die Trinker. Alle sitzen vereint auf dem Platz. Und auch wenn sich diese Gruppen selten mischen – zu fremd ist die jeweils andere Welt –, sorgen Hunde und Kinder, denen diese Grenzen zum Glück nichts sagen, dafür, dass man sich manchmal eben doch begegnet.
Lange Zeit war Rixdorf Inbegriff frivoler Unterhaltung, langer Nächte und durchgetanzter Sonntage. Gar nicht mal so anders als das, was Neukölln heute ist. Ersetze Pferdebus mit U7 und Tanzlokal mit Rotbart Bar. Ändere dann noch je nach Bedarf den Namen der Angebeteten und schon kann man ein berühmtes Rixdorfer Liedchen auch mal seiner Tinderbekanntschaft vorschmettern:
Auf den Sonntag freu' ich mir.
Ja dann geht es 'raus zu ihr
feste mit vergnügtem Sinn
Pferdebus nach Rixdorf hin.
Dort erwartet Rieke mir
ohne Rieke kein Plaisir.
Riek Riekche Riekake die ist mir nicht pi-pa-pe.
Geh' mit ihr ins Tanzlokal
Riek Riekche woll'n wir 'mal?
Ein Teil Rixdorfs, der mir besonders gefällt, ist der Wanzlikpfad. Ein klitzekleiner Weg, der von der Kirchgasse abgeht. Letzten September lief ich mit einer Freundin dort entlang. An einem Gartentor hing ein Zettel: "Walnüsse zu verschenken. Habe viel zu viele." Wir klopften und wurden herein gebeten. Eine alte Dame mit Sonnenhut saß auf ihrer Terrasse, als ob sie auf uns gewartet hätte. Der ganze Garten war voll mit Walnussbäumen. Zwei Stunden später hatten wir mit der alten Dame Kaffee getrunken, alle Taschen voller Nüsse und wussten nicht mehr, wo wir waren.
Rixdorf ist ein einzigartiger Ort. Ich mag die Diversität, die im tiefsten Neukölln rund um den Richardplatz herrscht. Dass Graffiti an den Wänden klebt und gleichzeitig die Zeit stehen geblieben ist.
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Beim letzten Mal hat uns Charlott von ihrer Liebe zum Alexanderplatz berichtet.
Fotos: © Charlott Tornow