Einst geflüchtet, heute sowas von da – Auf "Wirgefühl" erzählen Wana Limar, Palina Rojinski und Thomas Kretschmann ihre Fluchtgeschichten

Wir sind schon lange ein Land voller Menschen, die ihre Heimat vor Jahren oder Jahrzehnten verlassen mussten – und die heute unsere Gesellschaft mit gestalten, prägen, verbessern. Das Projekt "Wirgefühl" erzählt die Geschichten solcher Menschen, zum Beispiel von MTV-Moderatorin Wana Limar und ihrer Schwester Hila, die als Kinder aus Afghanistan nach Deutschland kamen.

Wana & Hila Limar
25, Redakteurin und Moderatorin | 28, Architektin

Leben in:
Berlin | Hamburg

Der Weg nach Deutschland:
1990 als Baby | mit drei Jahren von Afghanistan mit einem halben Jahr Zwischenstopp in Tadschikistan per Flugzeug nach Frankfurt, von dort aus in die Asylbewerberunterkunft in Hamburg-Langenhorn

In Begleitung von:
Ihren Eltern und ihrem älteren Bruder

Im Gepäck:
Hilas Puppe, die sie auf dem Arm tragen durfte. Ihr Lieblingspuppenservice passte nicht mehr in den Familien-Koffer

Obwohl sich die Schwestern so ähnlich sehen, sind Wana und Hila nicht zu verwechseln. Beide sind starke Persönlichkeiten, die etwas zu sagen haben – Wana direkt, Hila zurückhaltender, beide mit Nachdruck. Dass die Flüchtlinge in Deutschland mehr und mehr werden, sehen sie seit Jahren: Über die Organisation Visions for Children e.V., deren Vorstandsvorsitzende Hila ist, unterstützen sie ehrenamtlich schon lange Einzelbetreuungen und Gruppenaktivitäten für Menschen, die neu in Deutschland sind. Wenn sie offensichtlich Geflüchtete in der Berliner U-Bahn sieht, spricht Wana sie auch schon mal ganz direkt an. Sie hofft, mit solchen Aktionen nicht allein zu sein. Sich zu engagieren gehöre aktuell schließlich zum guten Ton, sagt Wana und grinst. Ein Trend, der ihr sehr gut gefällt!

Erinnert ihr euch noch an eure eigene Flucht?

Wana: Ich war ein Baby (lacht). Aber ich kenne natürlich die Gründe. Jahrzehnte lang herrschte Bürgerkrieg – und es kam einfach immer wieder zu Unruhen.

Hila: Ich weiß das natürlich auch nicht mehr so richtig. Aber es gibt immer mal wieder Erinnerungsbrocken. Zum Beispiel daran, wie meine Oma einmal ins Wohnzimmer kam und sagte: Wir müssen jetzt alle in den Keller gehen. Es gab eine Bombendrohung. In meiner Erinnerung saßen wir ewig da unten und den Einschlag habe ich als wahnsinnig hart empfunden. Später hat man mir dann aber erzählt, dass wir uns nur wenige Minuten versteckt haben, und dass die Detonation gar nicht so extrem gewesen sei – ich erinnere sie aber bis heute als total immens.

Sprecht ihr mit euren Eltern über damals?

Hila: Mit unserem Vater ja, mit unserer Mutter sehr wenig. Sie hat keine guten Erinnerungen. Sie hat viel Familie verloren.

Wie war das Ankommen in Deutschland?

Wana: Viele aus unserer Familie waren schon früher geflüchtet, viele auf härteren, längeren Wegen als wir und mit teuren Schleusern.

Hila: Wir selbst haben eine Einreiseerlaubnis bekommen, weil wir eben schon Familie in Deutschland hatten. Mit dem Flugzeug sind wir in Frankfurt gelandet, und ich erinnere mich ganz vage, wie wir dort von unserer Familie empfangen wurden.

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Neben der Geschichte von Wana und Hila gibt es zum Beispiel auch ein Interview mit Moderator Amiaz Habtu (Mitte).

Was kam dann?

Hila: Wenn ich an die Asylbewerberunterkunft zurückdenke, denke ich komischerweise nur an gute Zeiten, weil wir mit vielen anderen Kindern zusammen leben und spielen konnten. Unsere Eltern dagegen fanden diese Zeit ganz, ganz schrecklich. Sie wollen sich noch heute sehr ungern daran erinnern, wie sie damals von ihrer sehr geräumigen Wohnung in Afghanistan mit der ganzen Familie in ein einziges Zimmer in Langenhorn ziehen mussten.

Wana: Trotzdem waren unsere Eltern nie krass gestresst, die waren trotz allem immer relativ fröhlich.

Von wem habt ihr Deutsch gelernt?

Wana: In der Vorschule.

Hila: In den meisten Afghanischen Familien wird zu Hause Dari oder Pashto gesprochen, damit die Kinder – selbst die, die hier geboren sind – auch ihre Muttersprache verstehen.

Sprache ist ja immer auch ein Stück Identität. Oder? Wie wichtig ist es euch, beide Sprachen zu sprechen?

Wana: Absolut. Das schafft am Anfang vielleicht Herausforderungen, aber nicht unbedingt Probleme. Natürlich ist es komisch, wenn du als kleines Kind neu in eine größere Runde kommst und plötzlich sprechen alle Deutsch. Aber das ist eben so ’ne Übergangsphase, die habe ich nicht als schlimm, sondern einfach kurz als verwirrend wahrgenommen. Und jetzt ist es natürlich total gut, beide Sprachen zu können.

Hila: Wenn man nicht deutsch aussieht, ist man für andere Deutsche allerdings trotz perfekter Sprachkenntnisse nie hundert Prozent deutsch.

Bekommt ihr das im Alltag zu spüren?

Hila: Was mir oft auffällt sind Kleinigkeiten. Wenn ich zum Beispiel am Telefon meinen Namen sage und der Gesprächspartner dann beim nächsten Geschäftstermin verwundert sagt: Sie sprechen aber gut Deutsch.

Fühlt ihr selbst euch als Deutsche?

Hila: Im Ausland komischerweise mehr als hier.

Wana: Ich fühle mich genauso Afghanisch wie Deutsch, zu gleichen Teilen. Zum Glück!

Vor allem die Seelsorge kommt für Flüchtlinge an den offiziellen Stellen oft zu kurz

Was gefällt euch an Deutschland?

Hila: Die Ordnung, die Höflichkeit, die Pünktlichkeit.

Wana: Dass ich mich durchweg sicher fühle. Und ich halte Deutschland für ein Land, in dem viel reflektiert wird. Natürlich ist Deutschland ein bisschen steif, aber eben auch korrekt – auch in Bezug auf Tugenden wie die Art und Weise einander gegenüberzutreten. Das finde ich sehr schön an diesem Land.

Apropos korrekt: Wie korrekt findet ihr den Umgang mit der aktuellen Flüchtlingssituation?

Hila: Für mich ist eins der prekärsten Probleme das offensichtliche: Deutschland hätte früher reagieren müssen. Zeltlager, überfüllte Heime, überlastete Pädagogen und Sozialarbeiter – das hätte nicht sein müssen.

Wana: Das geht zwar ziemlich weit, aber was echt auch super, super schwierig ist, ist in Bezug auf Flüchtlinge diese Behördensprache! Neulich habe ich einen Brief für einen Flüchtlingsjungen bekommen, den ich betreue. Der war dermaßen kompliziert formuliert! Und wenn ich schon dreimal lesen muss, bis ich weiß: Hat er jetzt eine Zusage für die Schule oder nicht?, wie soll der das dann schaffen?

Hila: Man sollte Rücksicht auf die Sprachkenntnisse der Flüchtlinge nehmen und generell viel mehr Deutschkurse anbieten.

Wana: Auf jeden Fall. Das merken wir auch bei unserer ehrenamtlichen Arbeit. Darüber beschweren sich die Flüchtlinge, die wir betreuen, meistens als Erstes. Klar, einige haben eine Sprachbegabung und lernen Deutsch auch ohne Kurs auf ihren eigenen Wegen, aber das kann man ja nicht von jedem verlangen. Menschen haben unterschiedliche Talente.

Hila: Kinder und Jugendliche lernen sehr schnell. Aber was ist mit den Müttern? Wenn da nicht schnell gefördert wird, dann ruhen sie sich darauf aus, dass sie ein oder zwei Jahre auch ohne Deutsch klar gekommen sind. Da werden dann die Kinder zum Dolmetscher. Das war bei uns zu Hause früher auch so. Das hat mein Bruder gemacht. Und dabei lastete sehr viel Druck auf ihm. Und wichtig ist ja auch nicht nur die Sprache, sondern darüber hinaus auch Deutschkunde. Wer hier neu ist, dem sollten die Verhaltensweisen in der deutschen Gesellschaft nahegebracht werden.

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Auch Thomas Kretschmann und Palina erzählen auf "Wirgefühl" ihre Geschichte.

Zum Beispiel?

Hila: Ein gutes Beispiel ist der Umgang mit Kindern. Afghanische Menschen küssen zum Beispiel auch fremde Kinder, in Deutschland ist man da viel zurückhaltender. Aber woher soll ein Afghane das am Anfang wissen? Der streichelt dann einem fremden Kind auf der Straße über den Kopf oder kneift es liebevoll in die Wange und sorgt damit für Irritation. So eine Situation schafft unnötige Distanz. Auf beiden Seiten.

Wana: Vielen fehlt einfach die Möglichkeit, sich mit Deutschen zu connecten. Durch die sprachlichen und kulturellen Barrieren bleiben viele unter Flüchtlingen oder unter Migranten. Ich finde es ganz wichtig, da Brücken zu bauen und die Leute da zusammenzubringen.

Wie können diese Brücken gebaut werden?

Wana: Vor allem einfach von Leuten. Von der Politik kann man das nicht erwarten…

Hila: Ja. Und sicher sind erste Kontakte für viele Deutsche schwierig – obwohl viele bereit sind zu helfen. Die Frage ist nur wie. Ein Freund von mir hat eine sehr große Wohnung und ein sehr schlechtes Gewissen, weil er niemanden bei sich wohnen lassen möchte. Dafür ist er aber ein sehr vermittlungsstarker Mensch. Er möchte mit Nachhilfe für Flüchtlinge anfangen. Das passt zu ihm. Und das ist wichtig! Wir ordnen unsere Helfer bei Visions für Children e.V. nach ihren Fähigkeiten. Das halte ich für sinnvoll. Wer selbst nicht richtig weiß, was er tun kann, sollte sich informieren oder organisieren lassen. Eine ähnliche Organisation erwarte ich übrigens auch umgekehrt. Sachbearbeiter sollten in den Flüchtlingscamps rausfinden, was die Leute können und wer sie sind. Umso einfacher lassen sie sich auf dem Arbeitsmarkt oder in die Gesellschaft vermitteln.

Hat sich die Arbeit, die ihr leisten könnt, mit der wachsenden Anzahl der Flüchtlinge verändert?

Hila: Ja. Neue Einzelbetreuungen sind seit Anfang 2015 schwieriger möglich.

Wana: Wir machen jetzt mehr Gruppenprogramm.

Hila: Vor allem die Seelsorge kommt an den offiziellen Stellen oft zu kurz. Deshalb versuchen wir vor allem die beizubehalten, auch durch Programme wie Konzert- oder Theaterbesuche.

Wana, du hast noch eine Einzelbetreuung für einen jungen Flüchtling laufen. Wie hoch ist dafür dein Zeitaufwand pro Tag?

Wana: Im Durchschnitt so zehn bis zwanzig Minuten. Der zeitliche Aufwand ist also sehr gering. Es geht viel mehr darum, eine Bezugsperson für die Geflüchteten zu sein. Jemand, an den er sich wenden kann, egal ob mit kleinen oder größeren Fragen.


"Wirgefühl" ist ein Projekt von Kreativkonzepterin Danijela Barbaric, Fotografin Johanna Brinckman und Journalistin Anna Schunck. Hier kommt ihr zu den anderen Gesichtern und Geschichten, etwa von Moderatorin Palina Rojinski oder Schauspieler Thomas Kretschmann.


Fotos: © Johanna Brinckman

 

 

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