An der Ecke: Beusselstraße / Turmstraße

Diesmal hat sich unsere Autorin Anja in Moabit in den Wind gestellt und geschaut, was an der Beussel- Ecke Turmstraße so passiert. Sie lernte Bodo Bürger, den kleinen Nathan und den gut angezogenen Siegfried kennen.


Es ist bewölkt und windig. Beim REWE an der Ecke biegen reihenweise Taxen zum Flughafen ab. Wenige Menschen, viele Autos. Sie schieben sich unbeholfen um die Kreuzung, es wird ständig gehupt. Hinter den Scheiben schreien sich wütend Leute an. Nach außen dringt nichts. Ich fühle mich  von einer fünf Meter hohen Frau in einem Albtraum in Weiß angezogen und gehe rüber zu 'White Papillon'. Über dem Eingang steht 'Haute Couture', durch die Schaufenster betrachtet eine ältere Frau versteinert ein aufgebauschtes grünes Baiserkleid aus Viskose und Tüll.

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Sie hat ihre Tüten abgestellt und die Arme vor dem Bauch verschränkt. Sie ist gekommen, um zu bleiben. Es ist schwer, ihre Gedanken zu lesen. Ich betrachte ein bisschen mit ihr das Kleid und stelle mir vor, wie jemand eine Zigarette darauf schnipst und es sofort lichterloh verbrennt.

Ein kleiner Junge haut mit einem Lineal an mein Schienbein. Er ist sehr verschmitzt. Nathan heißt er und wird nächsten Freitag 12 Jahre alt. Nathan ist Leichtathlet, 1,46 groß, 31 Kilo schwer und springt 4,38 Meter weit. Er sagt, er ist nicht nur der Beste in seiner Klasse sondern der Beste der ganzen Schule.

Nathan

Auf der Kreuzung umfährt der schnittige Kurierfahrer Marc mit Leichtigkeit ein neues hupendes Wollknäuel von Autos. Er fährt rechts ran und holt eine Tupperdose aus seiner Fahrradtasche. Er hat tiefblaue Augen und hat schonmal ein iPad zu Lady Gaga ins Hotel Adlon gefahren. Er erzählt, wie er am roten Teppich an Lady Gaga vorbei zu ihrer Assistentin geleitet wurde und es nicht glauben konnte. Währenddessen holt er eine Stulle aus seiner Dose. Ich muss lachen. "Du schmierst dir Brote?". Er wird rot und sagt, das mache jeden morgen seine Freundin.

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Über dem Stromkasten an der Ampel lehnt Bodo Bürger und isst auch ein Brötchen. Er ist in Rente und arbeitet ehrenamtlich bei der Stadtemission "Warmer Otto". Er kann nicht erklären, warum die so heißt, aber er lädt mich zu einer 'Sonderglocke' ein, die er nächste Woche ausgibt, irgendwas mit Kaffee und Kuchen. Er findet, Berlin tut sehr viel für seine Obdachlosen.

Siegfried überquert die Strasse. Er ist ein auffallend modisch gekleideter Mann um die siebzig. Als wir beginnen über seinen Kleiderschrank zu reden, wird er sehr gesprächig. Er hat über vierzig Paar Schuhe. Auch ein Paar Budapester für 745 Mark, die er noch nie getragen hat. Er sagt, er habe das von seinem Vater, "...der war immer sehr anständig angezogen..." und freut sich, dass ich ihn auch anständig angezogen finde. Er hätte das immer durchgehalten, auch die "Jeans Zeiten in den 60ern" hat er nicht mitgemacht. Wir verabschieden uns an der Ecke beim Gemüsehändler.

Es ist nicht viel los heute, dennoch ist Kasim sehr geschäftstüchtig. Anscheinend muss die Petersilie weg. Kasim erläutert sein Geheimrezept: Jeden Morgen einen Löffel Petersilie, Ingwer und Knoblauch. Das mache wach, "Petersilie bringt mehr Energie als Kaffee".

Am Interessantesten ist ja der Imbiss vor Kasims Gemüseladen - Curry 76. Geduldig und gut gelaunt quatschen Marina und ihre Kollegin mit den Kunden. "Man ist hier Seelsorger, man berät, man hat viel mit Kindern zu tun" beschreibt Marina ihre Arbeit im Imbiss. Anscheinend wird den ganzen Tag Wurst gegessen, auch am frühen Morgen, "Ab sieben kommen die Bauarbeiter". Curry 76 sei ihre Familie, sagt sie, viele Stammkunden kommen jeden Tag für ihre Wurst. Auch im Winter. Jeden Tag. "Klar ist man befreundet". Sie werden oft zu Geburtstagen eingeladen und manchmal auch zu Beerdigungen. "Wenn der Verstorbene seinen Angehörigen gesagt hat, dass wir von Curry 76 kommen sollen, dann kommen wir auch", sagt Marina.  Nach und nach hockt sich ein Stammgast nach dem anderen zu uns und erzählt aus seinem Tag. Ich bleibe noch ein paar Minuten und wundere mich über die Wärme und Gemütlichkeit an dieser windigen Ecke.

 

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"Mein Lieblingssalat ist Petersilie"

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"Ich bin Friseuse"

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"Es ist zu kalt, aber sonst ist es schön"

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"Das Internet wird exponentiell schneller"

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"Wenn Sie nur kochen kann Brot mit Zwiebel, egal! Aber Liebe, Liebe, meine Frau ist mein Auge"

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"When you give a boy a little bit too much attention, they fall in love, - but don't quote me with that"

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Unsere Eckensteherin war das letzte Mal an der Potsdamer Straße / Kurfürstenstraße.

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