Warum muss ich mich ständig dafür rechtfertigen, in Friedrichshain zu wohnen?

© Kerstin Musl

Als ich neulich im Mit Vergnügen-Büro vorbeischaute, hatte sich Chef Matze gerade eine neue Bürofläche in Friedrichshain angeschaut. Es klang alles gar nicht schlecht: große Fenster, viel Licht. Doch eine Redakteurin hatte schon bei Erwähnung des Namens auf Alarm geschaltet und rief prompt: “Dann lass ich mich jetzt schwängern” – und signalisierte damit ihre klare Anti-Haltung gegenüber dem Ortsteil.

Es ist offensichtlich: Friedrichshain genießt unter den hippen Kids der Stadt leider keinen guten Ruf. Neukölln hat die coolsten Bars der Stadt, Kreuzberg chillt am Paul-Linke-Ufer, Charlottenburg suhlt sich in Westberliner Atmosphäre. Friedrichshain hingegen ist für viele Berliner der Inbegriff von the place NOT to be. Dabei lebt es sich dort eigentlich ganz gut.

Als Friedrichshainerin bin ich stets darauf vorbereitet, mich zu rechtfertigen, wenn mich jemand fragt, wo ich wohne. Genauso könnte man von mir wissen wollen, warum ich eigentlich kein Fleisch esse – die Antworten darauf habe ich mindestens ebenso schnell parat. Ich stelle mir automatisch vor, dass meinem Gegenüber sofort Bilder von grölenden Touristen auf der Simon-Dach-Straße vor dem geistigen Auge vorbeiziehen – und ich damit auch als unsensibler Party-Proll abgestempelt werde, der seine Sonntage an All-you-can-eat-Brunchbüffets verbringt und nichts lieber macht, als hobbymäßig die Graffitis auf dem RAW-Gelände zu fotografieren.

Diebstahl, Drogen, Demonstrationen

Schuld an Friedrichhains Image sind wohl die Orte, an denen man am ehesten mal vorbeikommt – und die einen von jetzt auf gleich verstören. Bestes Beispiel: die Warschauer Brücke. Hier strömt das partywillige Touri-Volk Richtung Matrix (allein das ist schon abschreckend genug), zur Eastside Gallery, nach Kreuzberg, während herumlungernde Jungs in Kapuzenpulli jedem ein “Hello, how are you” zuraunen. Diese Szenerie können selbst die soliden Straßenmusiker und der Blick auf den Fernsehturm nicht retten.

In den Medien tauchen meist ebenfalls nur die Warschauer Brücke, die Rigaer oder die Revaler Straße auf. Gründe: Diebstahl, Drogen, Demonstrationen. Wer noch nie dort war, könnte Friedrichshain gar für den gefährlichsten Ort in ganz Deutschland halten, gleich nach Marzahn und dem Mannheimer Ghetto.

Leider kann das Viertel auch in Sachen Gastro-Szene auf den ersten Blick nicht wirklich punkten. Wie soll man einen Stadtteil ernst nehmen, in dem sich Restaurants 2017 noch trauen, Wintergärten aus Plastikplanen anzulegen? In Reiseführern wird die Simon-Dach-Straße trotzdem noch als “hip” geführt. In Wirklichkeit ist sie aber ungefähr so sexy ist wie der Ballermann.

Auch neue, innovative Restaurant- und Barkonzepte sprießen eher in Bielefeld aus dem Boden als hier. Mit der Neuen Heimat ist Friedrichshain fast ganz von der kulinarischen Landkarte verschwunden. Sogar das Avocado-Toast hat es hier schwer.

Friedrichshain funktioniert genau deshalb. Es ist unaufgeregt und trotzdem belebt.

Zugegeben, all diese Faktoren gehören zu Friedrichshain dazu. Es ist in der Tat kein Viertel, das sich mit den besten Bars der Stadt, besonders außergewöhnlichen Lädchen oder stylischen Menschen rühmen kann. Muss es auch gar nicht. Friedrichshain funktioniert genau deshalb. Es ist unaufgeregt und trotzdem belebt. An manchen Ecken hässlich, an anderen dafür doppelt so schön. Nicht so angeranzt wie der Wedding, noch nicht so unnatürlich durchgestylt wie der Prenzlauer Berg.

© Kerstin Musl
© Kerstin Musl

Als ich vor ein paar Jahren hingezogen bin, ist mir als Erstes der Wochenmarkt am Boxhagener Platz aufgefallen, ein Ort, an dem ich fortan unbedingt meinen Samstagmorgen starten wollte. Ich habe die Stralauer Halbinsel entdeckt, die sich mit all ihrer Ruhe kaum mehr nach Berlin anfühlt. Bin auf die imposante Knorrpromenade gestoßen, die wie aus der Zeit gefallen wirkt und habe mich in die Oberbaum City verliebt, die zwischen Spree, Modersohnbrücke und Warschauer Brücke für viele Berliner wohl immer ein Fremdwort bleiben wird. Die Gegend rund um die Simon-Dach-Straße meiden wohl alle Friedrichshainer auf ihre Weise, die guten Ecken, das wissen alle, liegen sowieso woanders.

Der Nordkiez ist für mich das wahre Friedrichshain: die schöne Bänschstraße, in die im Sommer noch Sonnenstrahlen fallen, wenn die Sonne sonst nirgendwo mehr scheint. Die Samariterkirche, die eher in einem Dorf statt mitten in der Stadt stehen müsste. Die Richard-Sorge-Straße, die mit der Mühsamstraße die wohl traurigste und damit charmanteste Kreuzung Berlins bildet. Zwischendrin verstecken sich Programm-Kinos, Tapas-Bars und kleine Cafés, die eher auf gute Produkte statt viel Aufsehen setzen. Eine kleine Welt, in die die Matrix-Touristen sich nur selten verirren.

Wenn mich jemand fragt, wo ich wohne, werde ich mich wohl auch weiterhin rechtfertigen. Dabei müsste ich das eigentlich nicht.

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