So schwer ist es, einem Fremden eine Minute in die Augen zu gucken

© Odeta Catana

Ich habe ein flaues Gefühl im Magen. „Nur mal kurz gucken, was da passiert. Ist doch fast kein Umweg. Du musst ja auch nicht mitmachen“, überrede ich mich selbst. Man könnte meinen, ich müsste zu einer Swingerparty oder einem Ayahuasca-Workshop. Dabei geht es nur darum, einem Fremden eine Minute lang in die Augen zu gucken.

Als ich und mein flaues Gefühl um kurz nach Fünf am Alexanderplatz ankommen, haben sich circa 30 Menschen beim Treffpunkt eingefunden. Ein paar sitzen auf Decken unter der Weltzeituhr, die meisten stehen oder laufen drumherum und gucken – entweder sich gegenseitig in die Augen oder den anderen dabei zu. Das alleine ist schon witzig zu beobachten. Ich gebe mir erst mal Mühe, nicht auszusehen wie ein Single auf der Suche, vermeide es, stehenzubleiben und – paradoxerweise – den Menschen in die Augen zu gucken. Als mein Blick kurz an einem versunkenen Starr-Paar hängen bleibt, werde ich schon angesprochen. Eine blonde junge Frau mit blauen Augen fragt schüchtern, ob ich „auch will?“.

Willst du auch?

Obwohl das so nicht geplant war, reden Viele beim „Starren“, um erst mal mit der neuen Situation klarzukommen. Wir auch. Sie erzählt mir, dass sie früher niemandem lange in die Augen sehen konnte. Dieses Experiment ist eine Herausforderung für sie. Kenn ich. Nach unserer gemeinsamen Minute bricht sie mitten im Gespräch ab, sagt mit Blick auf einen älteren Mann mit weißem Rauschebart „Den will ich unbedingt noch gucken!“ und ist weg.

Ich gebe mir Mühe, nicht auszusehen wie ein Single auf der Suche.

Bei Sebastian, der mich direkt im Anschluss mit einem strahlenden Riesengrinsen abfängt, fällt es unheimlich schwer, nicht zu lachen. Wir stecken uns während unserer gemeinsamen Minute immer wieder gegenseitig an. Das hier ist voll sein Ding: „Ich starre jetzt immer fremde Leute an! Das macht so viel Spaß!“ Der nächste, der sich auffordernd vor mich stellt, ist nur zufällig mit seinem Freund vorbeigekommen, der sich in dieser Hippieatmosphäre sichtlich unwohl fühlt. „Warum, wenn ich fragen darf?“ – „Ich mag keine Nähe!“, sagt er und rennt weg. Andere sind nicht so beeindruckt. Ein Elternpaar auf Einkaufstour wundert sich: „Ich habe gehört, hier wäre ein Flashmob. Hab ich mir spannender vorgestellt.“

Hippie-Party und Flashmob

Sie machen ja auch nicht mit. Es passiert ganz schön viel in so einer Minute Augenkontakt. Im Grunde läuft so eine Kontaktminute immer gleich ab – wie ein erstes Date im Zeitraffer: albern, interessant, intim. Zuerst die vorsichtige Augenkontaktaufnahme, dann das nervöse Lachen, schließlich die Entspannung, gefolgt von – je nach gegenseitiger Sympathie – Langeweile oder Nähe. Diesen Emotionszeitraffer sieht man natürlich nur von innen. Anstrengend ist es auch nach einer Weile. Ich beobachte einen attraktiven Mann, der immer sehr schnell ein/en neuen Augenkontaktpartner/in vor sich stehen hat. Zwischen zwei Starr-Minuten senkt er erschöpft den Blick und muss mal tief atmen.

Zwischenzeitlich sind bestimmt hundert Leute an der Weltzeituhr und es scheint, als wären alle mit der neuen Situation warm geworden – und generell viel offener. Das Ganze artet ein bisschen zur Party aus, mittlerweile redet und lacht man sich spontan an, irgendwo fliegt ein „Free Hugs“-Schild herum und zum Aufwärmen bildet sich am Rand ein Tanzkreis.

Für den eher kontaktscheuen Durchschnitts-Großstädter mit Hang zur Anonymität ist das Augenkontaktexperiment eine besondere Erfahrung. Wie besonders, das fällt mir erst auf der Heimfahrt in der U-Bahn richtig auf. Gestärkt durch meine einstündige Frontalübung suche ich den Blick der Menschen – und finde keinen einzigen. Das ist mir so krass noch nie aufgefallen. Dabei geht es doch nur um einen Blick, keine Swingerparty oder einen Ayahuasca-Workshop…

Gestärkt durch meine einstündige Frontalübung suche ich den Blick der Menschen – und finde keinen einzigen.
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