Ist wirklich Austin die Musikhauptstadt der Welt? Das verrät das Buch "Sound of the Cities"

Philipp Krohn und Ole Löding sind Musikliebhaber. Sie glauben, dass Städte die Musik beeinflussen, die in ihnen entsteht. Für ihr Buch "Sound of the Cities" sind sie durch die USA und Europa gereist und haben die unterschiedlichsten Musikszenen erkundet. Von Nashville, über Paris, Bristol und Wien bis San Francisco und Antwerpen. Ihr Buch ist eine Mischung aus Popgeschichte, Erlebnisbericht, Reiseführer und Liebeserklärung an die Musikmetropolen und ihren Sound.

Und auch Austin, die liberale Stadt im konservativen Texas, war Teil ihrer Reiseroute, denn Austin ist das alternative Zentrum Amerikas schlechthin – SXSW, Austin City Limits, Fun Fun Fun Fest, Austin Psych Fest. In diesem Kapitel erzählen sie von der Magie der grünen Wüstenstadt. Dazu gibt es eine Playlist und die Pop-Spots im Überblick.


Aus dem Buch: "Sound of the Cities – Eine popmusikalische Entdeckungsreise" von Philipp Krohn und Ole Löding
Kapitel "Keep Austin Weird!"

An einem Sonntagabend kurz vor 23 Uhr. Überall in Amerika sitzen die Familien vor den Fernsehern oder schlafen sich aus, um für die Woche fit zu sein. Im Continental Club auf Austins South Congress Avenue dagegen ist die Tanzfläche voll. Ein Dutzend Ü40-Pärchen drehen sich umeinander und strahlen übers ganze Gesicht. Der Continental Club wurde 1957 eröffnet. Er kennt keine Stilgrenzen. Bluesmusiker treten hier genauso auf wie die New Yorker Noiserockband Sonic Youth. Gerade spielt wie regelmäßig sonntagabends die Country-, Blues- und Boogie-band Heybale! Fünf ältere Herren mit zum Teil weißen Bärten, einer Slidegitarre, einem akustischen Bass. Hinten gibt es einige Sitzplatzreihen mit halbhohen Barhockern. An der Wand hängen Fotos von Stevie Ray Vaughan und anderen Bluesmusikern. Acht große Ventilatoren sorgen für Frischluft. Der Club hat viel Patina, die Wände sind dunkelrot gestrichen, in einem kleinen Separee hängt ein Elvis-Filmplakat. Oben drüber gibt es noch eine abgetrennte kleine Galerie, in der an diesem Abend ein technisch brillantes Blues-Jazztrio auftritt. Der Organist spielt auf seiner Hammond B3 Bassbegleitung und Melodie. Als er zum Solo ansetzt, arbeitet sich die linke Hand weiter präzise wie ein Uhrwerk am Basslauf ab. Binnen weniger Minuten erhöht sich die Zuhörerzahl von fünf auf zwölf.

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Es ist erstaunlich, wie gut hier selbst die Bands sind, die praktisch unter Ausschluss der Öffentlichkeit gegen ein paar Dollar in den Hut spielen. Jürgen Engler (*1960) hat lange Zeit im Nachbargebäude des Continental Club gewohnt. Mit seinem Besitzer war er schon übereingekommen, ein Loch durch die Wand zu bohren, um von der Bühne Liveaufnahmen zu machen. Aus Kostengründen hat er dann aber doch darauf verzichtet. Der Mitgründer der Düsseldorfer Bands "Male" und "Die Krupps" lebt und arbeitet seit 1995 in Austin. Als Produzent des Labels Cleopatra Records hat er mit Künstlern wie Iggy Pop, Ministry und Sly Stone zusammengearbeitet. Er entdeckt viele Parallelen zu seiner Geburtsstadt am Rhein:

"Das war so ein Vibe: Jeder, den ich kennenlernte, war in der Musikszene aktiv, und man hatte so ein bisschen das Gefühl wie in Düsseldorf in den Endsiebzigern. Da war unheimlich viel los, und jeder war aktiv und eingebunden. Das ist in Düsseldorf spätestens in den Mittachtzigern verloren gegangen. Hier hast du das Gefühl, die ganze Stadt ist ständig am Leben, nur am Musikatmen, egal wo du hinkommst. Du kannst dem gar nicht entkommen. Egal wo du hingehst, hast du Musik am Laufen."

Den Unterschied zu deutschen Großstädten macht er am Beispiel des Music Lab im Süden von Austin fest: 125 Proberäume unter einem Dach gibt es dort. Die Infrastruktur dort sei sehr förderlich für eine aktive Musikszene: "In Deutschland gibt es auch irgendwelche Bunker, wo Bands in vergammelten kleinen Löchern ihre Instrumente aufbauen. Aber hier ist das eben was anderes. Du hast alles da, von der kleinen Cafeteria bis zu Musikgeschäften, Bänke draußen, wo Leute kommunizieren können. Das ist wie so ein Kommunikationszentrum. Jeder kennt sich oder lernt sich kennen, was ja hier auch ganz einfach und in Deutschland nicht so easy ist."

The Continental Club on South Congress in Austin

Und auch die vielen Auftrittsmöglichkeiten trügen dazu bei, dass sich die Musiker professionalisieren. Ihre Live-Erfahrung hebe sie von Bands in Kontinentaleuropa ab. "Die haben jeden Tag Gigs irgendwo. Dadurch sind die natürlich granatengut. Die sind alle kampferprobt, die Jungs. Die leben, was sie machen. Das ist auch der Unterschied zu vielen deutschen Bands: Da leben die meisten nicht, was sie machen. Das ist im Prinzip ein Feierabendjob oder Spaß. Hier leben die Leute das", sagt Engler. In den ersten Jahren nach seinem Umzug in die USA hat der Krupps-Musiker in New York gelebt. Auch die Weltstadt habe eine großartige Musikszene. Man habe dort aber mehr investieren müssen, um Bescheid zu wissen, was gerade passiert. Zudem seien die Wege viel weiter als in Austin, wo man nur in die Innenstadt gehen müsse, um gute Musik zu erleben. Darin fühlt er sich ebenfalls an Düsseldorf zu seiner Zeit dort erinnert. Am besten gefällt dem Deutschen die Haltung der Musiker aus der texanischen Hauptstadt. In Los Angeles werde viel geschauspielert. Es gebe viele Möchtegernstars. Austin sei nackt, unaufgesetzt und total echt. "Hier gibt es keinen Haarspray-Poser-Metal. Das hätte nie aus Austin kommen können", lobt er.

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Im Süden der Vereinigten Staaten ist Musik sehr viel unmittelbarer zu er-leben als etwa im Nordosten des Landes. Austin hat für Gitarrenmusik die lebendigste Szene aller nordamerikanischen Städte. Auf einer langen Popmusiktradition aufbauend, hat sich die texanische Hauptstadt eine einzigartige Position in der Musikindustrie erarbeitet. Sie ist die Hochburg für handgemachte Musik, unabhängige Musiklabel und technisch hervorragende Livebands. An jeder Ecke ist Musik zu erleben. Die Szenemitglieder gehen sehr umsichtig miteinander um und arbeiten generationenübergreifend miteinander. An wenigen Orten der Welt wird die Staffelübergabe zwischen den Bands unterschiedlicher Generationen so reibungslos gestaltet. Der respektvolle Umgang mit Musiktradition ist ein entscheidender Faktor dafür, dass kreative Musik entsteht – das macht uns neugierig auf New Orleans, die Stadt, die wie keine zweite von ihrer reichen Musiktradition geprägt ist.

Mixtape

  1. 13th Floor Elevators – »Splash 1« (aus dem Album: The Psychedelic Sounds Of The 13th Floor Elevators, 1966)
  2. Townes Van Zandt – »I’ll Be Here In The Morning« (aus dem Album: For The Sake Of The Song, 1968)
  3. Willie Nelson – »Shotgun Willie« (aus dem Album: Shotgun Willie, 1973)
  4. Lucinda Williams – »King Of Hearts« (aus dem Album: Happy Woman Blues, 1980)
  5. Daniel Johnston – »Keep Punching Joe« (aus dem Album: Continued Story, 1983)
  6. Stevie Ray Vaughan – »Mary Had A Little Lamb« (aus dem Album: Texas Flood, 1983)
  7. Scratch Acid – »Owner’s Lament« (aus dem Album: Scratch Acid, 1984)
  8. The Fabulous Thunderbirds – »Tuff Enuff« (aus dem Album: Tuff Enuff, 1986)
  9. Butthole Surfers – »Human Cannonball« (aus dem Album: Locust Abortion Technician, 1987)
  10. Glass Eye – »Whiskey« (aus dem Album: Bent By Nature, 1988)
  11. Dixie Chicks – »Wide Open Spaces« (aus dem Album: Wide Open Spaces, 1998)
  12. ... And You Will Know Us By The Trail of Dead – »How Near How Far« (aus dem Album: Source, Tags & Codes, 2002)
  13. Spoon – »The Two Sides Of Monsieur Valentine« (aus dem Album: Gimme Fiction, 2005)
  14. This Will Destroy You – »Leather Wings« (aus dem Album: This Will Destroy You, 2008)
  15. Shearwater – »Rooks« (aus dem Album: Rook, 2008)
  16. Balmorhea – »Remembrance« (aus dem Album: All Is Wild, All Is Silent, 2009)
  17. Explosions In The Sky – »Trembling Hands« (aus dem Album: Take Care, Take Care, Take Care, 2011)
  18. White Denim – »Drug« (aus dem Album: D, 2011)
  19. Okkervil River – »White Shadow Waltz« (aus dem Album: I Am Very Far, 2011)
  20. Iron and Wine – »The Desert Babbler« (aus dem Album: Ghost On Ghost, 2013)

Pop-Spots

Continental Club
Einer der sympathischsten Musikclubs in den Vereinigten Staaten, 1957 eröffnet.

1315 South Congress Avenue, Austin, TX 78704

Stevie Ray Vaughan Statue
Am südlichen Colorado-Ufer kann man dem Erneuerer des Blues huldigen, der auf tragische Weise 1990 durch einen Hubschrauberabsturz ums Leben kam.

West Riverside Drive, Austin, TX 78704 (kurzer Fußweg vom Auditorium Shores at Town Lake zum Ufer)

South by Southwest
Jeden März verwandelt sich Austin durch dieses Musik-, Film- und Technologie-Fes-tival zum Mekka der alternativen Kultur.

Sixth Street
Zwischen der Interstate 35 und der North Congress Avenue liegt die Ausgehmeile von Austin. Bar neben Club neben Steakhouse neben Club. Überall Musik.

6th Street, Austin, TX 78704

Waterloo Records
Wundervoller unabhängiger Plattenladen mit viel Vinyl. In allen Genres von Jazz über Rock über Soul gut sortiert.

600A North Lamar Boulevard, Austin, TX 78703

East Side
Etwas abgerissener als Downtown oder das Ausgehviertel auf der South Congress Avenue. Sehr individuelle Clubs wie Hotel Vegas oder White Horse.

1500 East 6th Street, Austin, TX 78702

Whole Foods Market
Um die Eigenheit der texanischen Hauptstadt als Zentrum der Alternativkultur zu verstehen, lohnt ein Besuch in diesem Bio-Supermarkt mit reichhaltigem Angebot an gesunden, leckeren (und teuren) Snacks. Die Kette hat ihren Hauptsitz in Austin.

525 North Lamar Boulevard, Austin, TX 78703wholefoodsmarket.co

Mohawk
Dreimal zum besten Liveclub der Stadt im Ausgehmagazin The Austin Chronicle gewählt. Viel Patina, jeden Abend Auftritte draußen und drinnen.

912 Red River Street, Austin, TX 78701

Emos
Einst auf der 6th Street gelegen, war Emos eines der Zentren der Punkrock-Szene in den frühen 1990ern. Nach dem Umzug besserer Sound, aber weniger Seele.

2015 East Riverside Drive, Austin, TX 78741

Music Lab
125 Proberäume stehen für aufstrebende Bands zur Verfügung. Zwischen 11 und 15 Uhr kann man auch Equipment kaufen. Zwei Standorte.

500 East St. Elmo Road, Austin, TX 78745


"SOUND OF THE CITIES. Eine popmusikalische Entdeckungsreise" von Philipp Krohn und Ole Löding erscheint am 23. September 2015 bei Rogner & Bernhard.

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Continental: © Trey Ratcliff/flickrCC
Austin: © GSPhotography/Shutterstock
Titelfoto: © Chad Wadsworth

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