"Geht man so mit Menschen um?" – So erlebte eine Helferin die letzte Woche vor dem LaGeSo

von Christiane Beckmann

 

Freitag, 14.08.2015 im Landesamt für Gesundheit und Soziales (LaGeSo)

Ich schiebe die Zusammenfassung des gestrigen Freitags schon den ganzen Tag vor mir her. Hatte einmal angefangen, aber irgendwie wollte ich nicht weiterschreiben. Ich weiß, was auf mich zukommt, ich werde gleich nochmal nachlesen, was jede Einzelne von uns vom Orga-Team erlebt hat. Denn wir wollen heute klar darstellen, was wir auf diesem Gelände erleben – an nur einem Tag!

Wenn ich das hier aufliste, das weiß ich, wird es mir danach schlecht gehen, es wird alles wieder hochkommen, ich werde beim Schreiben heulen, so wie ich, wie es wohl viele die letzten Tage mehrmals am Tag taten. Ich bin mir auch oft nicht sicher, was es wirklich ist, dass mir dort ab und an den Atem raubte, den fetten Kloß im Hals aufsteigen ließ. Manchmal denke ich, es ist – und ich kann nur für mich reden – die Verachtung, die ich für die Entscheider empfinde. Dann denke ich, dass es die Scham ist, dass ich Glück in meinem Leben hatte, auch wenn es sich in manchen Momenten nicht so anfühlte. Dann sehe ich diese Menschen vor mir und ich fühle mich wie ein kleiner Wurm.

Was haben sie wohl durchgemacht auf dem Weg nach Deutschland? Ist das hier mein Deutschland? Geht man so mit Menschen um? Wir pusten auf ein Knie eines Kindes, nehmen es in den Arm, wollen es verwöhnen, weil es von einer Schaukel fiel. Im LaGeSo sehe ich Kinder, die im Krieg geboren sind, eine Flucht in einem Boot überlebt haben, mit Schlapperlatschen rumlaufen, die vier Nummern zu klein sind, die 12 Stunden mitten in Deutschland im Sand liegen müssen und niemand pustet.

Bitte seht diese Einleitung als eine Triggerwarnung.

Ist das hier mein Deutschland? Geht man so mit Menschen um? 

Mein Tag beginnt mit der Fahrt zum Großmarkt Beusselstraße, ich hole die Zutaten für eine Linsensuppe ab, denn es konnte über Nacht ein Kochwagen organisiert werden, der zeitgleich auf das LaGeSo-Gelände fährt. Dieser wurde für den heutigen Tag gesponsert, ab nächste Woche werden wir den bezahlen müssen. Mit 100 Euro pro Tag. Auch wenn das eine Farce ist, dass dies nicht von staatlicher Seite übernommen wird, ist es für heute erstmal eine gute Nachricht. Insbesondere nach dem gestrigen turbulenten Tag, denn es bedeutet, es geht weiter wie bisher.

Eingetroffen gehe ich morgens erstmal eine Runde, um die Situation zu prüfen. Wir Frauen haben uns die Orgatätigkeiten aufgeteilt. Diana (Vorstand und Gründerin) ist der Knotenpunkt zur Presse und Politik und versiert durch ihre jahrelange Tätigkeit im Bereich "Flüchtende". Runa koordiniert mit einer ungeheuren und bewundernswerten Kreativität den Non-Food-Bereich. Mareijke ist der wandelnde Infotisch, die Schnittstelle zum Internet und ebenfalls Koordinatorin. Ebru schmeißt mit einer unglaublichen Energie und Struktur einen kaum beherrschbaren Essensbereich. Ich koordiniere/organisiere nun seit einer Woche die einzelnen Fixpunkte der UnterstützerInnen, bin Ansprechpartnerin für die Presse und alle anderen, die Fragen haben.

Bei all dem unterstützen uns großartige Menschen. Menschen jeder Religion, Hautfarbe, Herkunft. Hier treffen UnterstützerInnen aufeinander, die sich bis dato nicht kannten, bei unmenschlichen Temperaturen, anstrengenden Aufgaben und unterirdischen Voraussetzungen arbeiten. Und in der ganzen Woche gab es nicht eine Auseinandersetzung oder ein böses Wort. Ganz im Gegenteil. Dazu kommen Ärzte, Hebammen, PflegerInnen, Krankenschwestern vorbei. (...)

Somit beginnt der Tag auf dem Gelände. Es sah um 9 Uhr recht ruhig aus, vielleicht 250–300 Wartende. Naja, dachte ich, mal sehen, wer über den Tag noch so ankommt. Um die Uhrzeit sind schon einige HelferInnen vor Ort. Und viele Gesichter kenne ich seit Tagen. Ich glaube, wer einmal dabei war und weiterhin Zeit hat, der/dem fällt es schwer, nicht wiederzukommen.

Am Haus R, unserem Headquarter, weise ich die Neuen ausführlich ein. Es sind Sicherheits- und Gesundheitsaspekte einzuhalten, das Gelände wird erklärt, der Ablauf beim Haus – es ist viel zu erklären. Die Leute werden verteilt, verteilen sich selber. Mittlerweile, so können wir mit Recht behaupten, haben wir ein Klima der bestmöglichen Befriedung geschaffen. Man merkt es. Hier und da fangen Jugendliche an einen Fußball hin und her zu spielen, in der Kinderecke trappeln die ersten Kinder ein. Eigentlich darf ich gar nicht Kinderecke sagen, denn mittlerweile steht da ein kleines Paradies.

Dieser Freitag war ein höllischer Freitag

Kaum zurück an dem Haus ist für uns die trügerische Ruhe vorbei. Die Menschen auf dem Feld kennen uns, wer uns nicht kennt, zu der/dem hat es sich rumgesprochen. Uns kann man vertrauen, das sind die, die helfen. Und die Verzweifelten finden ihren Weg zu uns. Und dieser Freitag war ein höllischer Freitag:

  • Ein seit drei Tagen rumirrender Mann mit Schrapnell im Auge ohne Unterkunft. Hat zum Montag einen OP-Termin in der Charité. Er und seine Familie erhalten aber trotzdem die Umverteilung nach Friedland. Und obwohl der OP-Termin feststeht und zwingend notwendig ist, gibt es keine Aussetzung der Umverteilung.
  • Vier Minderjährige haben Wartezeiten von 3 bis 4 Tagen je nach Person. Dann Weiterleitung Wupperstraße (dort kommen die Schutzbefohlenen ohne erwachsene Begleitung hin). Jeine Kapazitäten. Und wieder erneute Ausstellung von Hostel-Gutscheinen; am gestrigen Tag alleine zwölf Stück (mit eigenen Augen gesehen) und Barauszahlung. Somit wieder obdachlos.
  • Ein Minderjähriger wird von seiner Großmutter nach Schwarzfahren und Polizeieinsatz getrennt, da die Großmutter einen anderen Namen trägt. Er wird in die Wupperstraße gebracht, ohne Info an die Großmutter. Sie sucht beinahe 2 Tage nach ihm.
  • Eine Akte eines jungen Mannes geht 2 Mal verloren. Er muss schlussendlich 3 Mal einen neuen B-Bogen ausfüllen und wartet somit seit 9 Tagen ohne Geld und Unterkunft.
  • Suizidversuch eines jungen Mannes direkt vor unserem Haus R
  • Krankes Baby mit Notfalleinsatz; anschließend Familie in Privatunterkunft da sonst obdachlos.
  • Alte Frau mit hohen Zuckerwerten, wieder Notfalleinsatz, wieder Privatunterkunft da sonst obdachlos
  • Alle Notfalleinsätze sind schlussendlich obdachlos, wenn wir sie nicht abfangen und in eine private oder andere Unterkunft begleiten.
  • Behindertes Mädchen unversorgt seit Tagen. Spastische Lähmungen und schwere Hautinfektionen. Sozialdienst ist überlastet kann nicht reagieren.
  • Ein Mann erfährt, dass sein Bruder zuhause verstorben ist und erleidet einen Nervenzusammenbruch. Er schreit, fällt unter Schock. Als er wieder einigermaßen bei Kräften ist, hat er vergessen, dass sein Bruder verstarb, ruft wieder zuhause an und bricht wieder zusammen. Schreit minutenlang, immer wieder, über Stunden. Wir bemühen uns um einen psychologischen Begleiter, aber wer spricht seine Sprache? Am Ende finden wir jemanden, der ihn ins Krankenhaus bringt. Er ist abends wieder da, weint, schreit, eine unserer wunderbaren Helferinnen nimmt sich seiner an, betreut ihn mit einer unglaublichen Hingabe. Es wird viel geweint. Abends bringen wir ihn in die Moschee, in das Haus der Weisheit. Der einzige Ort, wo er Kraft schöpfen und zur Ruhe kommen könnte.
  • Sieben 16-jährige Jungs, die nach zwei Tagen im Park ein Hostel gefunden haben, aber kein Essen, kommen zum LaGeSo zurück, in der Hoffnung, dass sie etwas zu Essen bekommen.
  • Ein Junge mit gebrochenem Arm, die Mutter und Schwester dürfen nicht mit ins Krankenhaus, weinen weil sie Angst haben, den Jungen nicht wieder zu finden.

Sicherlich habe ich einiges vergessen aufzuzählen, irgendwie verschwimmt es, ich will nicht mehr darüber nachdenken, es aufzählen, es ist einfach zu viel. Aber ich wage gar nicht, zu sagen, dass es zu viel für mich, für uns ist, wenn man sieht, was die Menschen vor uns durchmachen. Dazu mischt sich das Gefühl der Taubheit, Verachtung, Unverständnis und des Alleingelassenseins. (…)

Was verdammt nochmal muss hier noch passieren? Reicht es nicht, dass eine Frau ihr Kind im vierten Monat verliert?

Mein persönlich schlimmster Moment war, als eine schwangere Frau, die seit vier Tagen über Bauchschmerzen klagte, aber warten musste/wollte, auf dem Weg ins Krankenhaus ist – vermutlich wird ihr Kind es nicht überleben. Und wir müssen das Taxi zahlen, damit ihr Mann nachkommen kann. Das war, als ich für ein paar Minuten ausstieg, mir die Luft wegblieb und ich dachte: Was verammt nochmal muss hier noch passieren?

Reicht es nicht, dass eine Frau ihr Kind im vierten Monat verliert? (...)

Niemand ist entspannt

So habe ich also gelesen/gehört, die Situation würde sich entspannen vorm LaGeSo. Nun wisst ihr, wie Entspannung aussieht. Nein, entspannt ist niemand. Nicht die Mitarbeiter des LaGeSo, die seit drei Jahren rund um die Uhr arbeiten. Da ist dann auch das Wohl des Mitarbeiters egal. Und auch nicht die Menschen, die gerade eine Flucht hinter sich haben, fühlen sich entspannt. Sie sind weiterhin hungrig, ausgebrannt, krank, traumatisiert, was auch immer. (...)

Ich könnte euch nun noch von dem Polizisten auf der Wache erzählen, auf der sich die Flüchtenden registrieren müssen. Der sagt, dass er keine mehr registrieren wird – wenn noch mehr kämen, würde er die Wache schließen, weil sie nicht mehr hinterherkommen (eine Registrierung dauert ca. 3 Stunden). Dass schon das mobile Registrierungsteam von der Bundespolizei angefordert wurde, es aber noch nicht da ist. Dass das Regierungsviertel wohl keinen Streifenwagen vor Ort hat. Er habe keine Leute.

Ich könnte euch auch noch erzählen, wie am Abend rund 20 Flüchtende vor dem LaGeSo nicht mit dem Bus mitfahren durften. Glücklicherweise engagierten sich zwei Mitarbeiter und sie kamen unter. Dies aber auch nur auf unsere Kosten, denn es war ja kein Bus mehr da.

Ich könnte nochmal erzählen, dass in der neuen Unterkunft Essen und Non-Food-Artikel fehlten und wir fünf Autos vollluden, um dort auszuhelfen.

Ich könnte auch erzählen, dass ich nach 12 Stunden LaGeSo dann nochmal bis kurz vor 2 Uhr in Wilmersdorf war. Wie man dort bis zu dem Zeitpunkt noch immer nicht alle Menschen registriert und im Bett hatte, dass Kinder und Babys auf dem Hof schliefen. Dass ein allein reisender 16-Jähriger gegen 1 Uhr eintraf, der erzählte, dass er alleine auf der Flucht war, seit März.

Oder dass Bayern einfach mal eine 11-köpfige Gruppe, Erwachsene mit Kindern, an einem Wochenende zum LaGeSo per Bus fahren lässt, Ankunft 1.30 Uhr, obwohl es geschlossen ist. Dass wir sie mit zwei Großtaxen auf unsere Kosten nach Wilmersdorf fahren ließen.

Als ich heute Morgen ging, ging ich nicht mit dem Gefühl, dort fertig zu sein. Aber ich musste gehen, denn ich bin kaputt. So ging ich mit dem Wunsch, dass mir doch jemand genug Geld geben würde, dass ich diese Arbeit weiter machen kann, denn diese Menschen brauchen uns. Nächste Woche gehe ich also wieder arbeiten, der Alltag steht vor der Tür. Ich werde den auch leben, aber es wird ein anderer Alltag sein als vorher.


Dieser Text erschien als erstes in der Facebook-Gruppe von "Moabit hilft" und wird hier in einer gekürzten Fassung mit Genehmigung der Urheberin veröffentlicht.

Buch, Mit Vergnügen, Berlin für alle Lebenslagen
Zurück zur Startseite