»Katzenfutter zwischen Barrikaden« Thomas Neukum berichtet über den Schwebezustand in Istanbul

© Matze Hielscher

Wir hatten für diesen Monat ein großes REISEVERGNÜGEN über Istanbul geplant. Eine Stadt, die uns wie kaum eine andere begeistert. Ich war vor Jahren da, Linda hat dort gelebt, Aida kam schwärmend zurück und zuletzt auch Verena, die zusammen mit unserem Freund Thomas Neukum einen ausführlichen Bericht verfassen wollte. In der letzten Woche hat sich nun einiges in Istanbul verändert. Thomas ist noch immer da und hat mit seiner Kamera die bewegenden Momente am Taksim-Platz fest gehalten und berichtet hier von seinen Erfahrungen der letzten Tage und Nächte.

Ja, ich fühle mich in diesen Tagen in Istanbul ziemlich sicher. Trotz Tränengas, welches großflächig durch die Straßen unseres jungen, weltoffenen Wohnviertels Cihangir in unsere Wohnung weht. Trotz den Hunderttausenden von Menschen, die sich durch die engen Straßen vorbei an selbstgebauten Müllbarrikaden auf den Straßen zum Taksim-Platz und Gezi-Park drängen – dort, wo alles vor ein paar Tagen als friedlicher Protest mit ein paar hundert Menschen begann und welcher sich nun zu einer der größten Revolten dieses Landes entwickelt.

Dieses Gefühl der Sicherheit liefert nicht etwa die Polizei. Dieses Gefühl geben mir ausschließlich die Menschen und Freunde, die hier so friedlich protestieren. Tanzend, singend, Fahnen schwenkend. Wo man auch hinschaut: man sieht eine unglaubliche Hilfsbereitschaft und Solidarität. Die Bewohner Istanbuls sind in diesen Tagen zu einer Einheit gewachsen. Beeindruckende Beispiele: Fans zweier rivalisierender Fußballvereine, die sich vor ein paar Wochen nach einem Spiel noch die Köpfe eingeschlagen haben, skandieren nun leidenschaftlich zusammen, Arm in Arm, Parolen gegen Premierminister Erdogan. Moscheen öffnen ihre Türen für Verletzte genauso selbstverständlich wie Bewohner ihre Haustüren, damit Fliehende Zuflucht finden können. Tausende von Menschen stehen wie auf Knopfdruck auf ihren Balkonen und klopfen solidarisch auf Töpfe und Pfannen.

Das Paradoxe: überall, wo die Polizei nicht präsent ist, herrscht Frieden und Ordnung. Die Menschen räumen die Tränengaspatronen, die ihnen in der Nacht zuvor noch mit übertriebener Härte entgegengeschossen wurden, in den frühen Morgenstunden im Regen in große Plastikmüllsäcke. Nach dem (vorläufigen?) Rückzug der Polizei vom Taksim-Platz und Gezi-Park wurden dort mehrere kleine Stände errichtet, an denen es Wasser, Obst und selbstgebackene Kuchen gibt. Niemand möchte Geld dafür. Es herrscht Volksfeststimmung.

Aber: nur etwa einige hundert Meter weiter östlich gab es gestern Nacht wieder schwere Ausschreitungen zwischen Polizei und Demonstranten vor dem Dolmabahçe Palast und noch etwas weiter im Stadtteil Beşiktaş. Es sind diese zwei Bilder, die wir momentan jeden Tag sehen: feiernde, friedliche Menschen, Straßenverkäufer und volle Restaurants auf der einen Seite - auf der anderen Gruppierungen von jungen Menschen mit Atemschutzmasken und Helmen, die zur nächsten Barrikade rennen, um dort gegen die Polizei mit Pflastersteinen zu kämpfen. Momentan herrscht ein Schwebezustand -  man weiß nicht, in welche Richtung es in den nächsten Tagen gehen wird. Tagsüber gehen die Leute ihrer Arbeit nach. Nach außen hin herrscht Normalität. Gegen Abend aber immer wieder dieselben Fragen: wann und wo wird es Ausschreitungen geben und wird die Polizei versuchen, Richtung Taksim zu marschieren? Wie schwerwiegend werden die Kämpfe in Beşiktaş sein? Und wieder treibt der Wind Tränengas durchs Viertel. Man weiß nicht immer, woher.

Aber wir bewegen uns völlig frei auf den Straßen, fühlen uns nicht eingeschränkt. Meiden aber die Plätze, an denen die letzten großen Ausschreitungen stattgefunden haben und haben zur Sicherheit Atemschutzmasken dabei. Jeden Abend gehen wir auf den Taksim-Platz und spüren den Hauch einer kleinen Revolution, die hier womöglich stattfindet. Man möchte in diesem Moment nirgendwo anders sein.

Diese Revolte hätte in dieser Form ohne die sozialen Netzwerke nicht stattgefunden. Viele der türkischen Medien blieben still. Vom ersten Tag an waren Facebook, Twitter und Co. unsere Informationsquelle Nummer eins und die Bürger nutzten diese, um sich zu organisieren. Im Minutentakt gab es während den nächtlichen Ausschreitungen neue Statusmeldungen und Videos von unseren türkischen Freunden, welche schonungslos die Brutalität und Rücksichtslosigkeit der Polizei zeigten. Die jungen Türkinnen und Türken haben durch ihren leidenschaftlichen und mutigen Einsatz auf der Straße eine Lawine ins Rollen gebracht, die sich nun durch alle Schichten nährt und immer größer wird. Wie nachhaltig und mit welchen Folgen - das wird sich zeigen.

Diese Zeilen und Fotos sollen keine politischen sein. Sie sollen lediglich zeigen, wie sehr ich die Menschen und Freunde bewundere, die ohne zu Zögern gegen diese autoritäre Regierung und brutale Polizei antreten, auch wenn ihre Lungen mit Tränengas vollgepumpt und ihre Köpfe mit Schlagstöcken malträtiert werden. Wenn man in ihre überzeugten Gesichter schaut, dann hat man jedoch keinen Zweifel, wie diese Geschichte am Ende ausgehen wird.

istanbul2013matze1

Blick auf den sich langsam füllenden Taksim-Platz, rechts der beginnende Gezi-Park.

istanbul2013matze2

Junge Protestierende auf dem Weg zu einer Demonstration mit Polizeikontakt.

istanbul2013matze3

Eine der zahlreichen Straßenblockaden, die der Polizei die Zufahrt zum Taksim-Platz erschweren soll.

istanbul2013matze4

Munitionslager.

istanbul2013matze5

Helfer mit Mitteln gegen durch Tränengas verursachte brennende Augen.

istanbul2013matze6

Straßenblockade.

istanbul2013matze7

Friedlicher Protest im Gezi-Park.

istanbul2013-7658

Erschöpfte Demonstranten.

istanbul2013-7677

Friedliche feiernde Menschen nach dem Rückzug der Polizei.

istanbul2013-8036

Nachrichten an die Welt.

istanbul2013-8042

Menschen nach einem Regenschauer auf dem Taksim-Platz.

istanbul2013matze9

Menschen auf dem AKM-Gebäude (Kulturgebäude, seit Jahren eine Baustelle) am Taksim-Platz.

istanbul2013matze10

Ausgebrannter Bus am Gezi-Park.

istanbul2013matze11

Auch in diesen Zeiten versorgen die Bürger ihre liebsten Mitbewohner, die streunenden Katzen, mit Tierfutter.

 

 

Thomas Neukums Istanbul Blog:
http://shootistanbul1.tumblr.com/

Ein Video, welches die letzten Tage gut zusammenfasst:
https://www.facebook.com/photo.php?v=472402239509898

Aktuelle Fotos und Nachrichten:
https://www.facebook.com/OccupyGezi?fref=ts

Einige Artikel mit mehr Hintergründen:
http://www.spiegel.de/politik/ausland/aufstand-gegen-premier-erdogan-tuerkischer-fruehling-in-istanbul-a-903257.html
http://www.zeit.de/politik/ausland/2013-06/istanbul-protest-guppen
http://www.taz.de/Realitaetsferner-tuerkischer-Praesident/!117321/
http://www.theglobeandmail.com/commentary/in-turkey-erdogan-gets-a-wake-up-call/article12319833/?cmpid=rss1

Zurück zur Startseite